Redaktionsblog - Im Ententeich

Quasi halbiert

08.02.2016. Was Mathias Müller von Blumencron da sagt, ist schon frech. Qualitätsmarken in der deutschen Medienlandschaft wachsen nicht nur nicht, sie schrumpfen und schrumpfen und schrumpfen. Von Thierry Chervel
Was Mathias Müller von Blumencron, der Doyen des deutschen Onlinejournalismus, da sagt, muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: "In Deutschland hat es in den vergangenen zwanzig Jahren nicht ein Start-up zu journalistischer Relevanz gebracht, dafür wachsen die Qualitätsmarken."

Höre ich richtig? Gerade lernten wir doch aus neuesten IVW-Zahlen (hier bei turi2), dass die Printhäuser, denen die von Blumencron besungenen "Qualitätsmarken" gehören, weiter geschrumpft sind. Die Auflage der FAZ sinkt seit Jahren - mit krassen Folgen für den Inhalt des Qualitätsblatts. Allein die Zahl der Literaturkritiken pro Jahr dürfte sich seit 2000 fast halbiert haben (mehr hier)! Alle Teile der Zeitung sind quasi halbiert. Die Kulturkorrespondenten, einst der Stolz dieses stolzen Feuilletons wurden fast ausnahmslos heimgeholt.

Und Online-Chef Blumencron, der einst Spiegel online groß machte, schreibt dazu (auch weil er die übrigens durchaus angenehme und nutzerfreundliche App der FAZ einführt und bei Horizont verkaufen muss), "dass sich noch mehr Leser digital orientieren und auch bereit sein werden, dafür zu zahlen".

Sie mögen ja für die eine oder andere Lieblingszeitung online zahlen mögen, aber was sind die zwanzig oder dreißig Millionen Euro Umsatz, die ein größeres Online-Medium machen wird, im Vergleich zu den verschwundenen, vielfach höheren Umsätzen von Zeitungen wie der FAZ aus den Hochzeiten des Print? Und die werden nicht zurückkommen, denn sie wurden nicht durch den Verkauf von Informationen erzielt, sondern durch den Verkauf von Stellenanzeigen, die woanders inzwischen für ein Zwanzgistel des Preises wesentlich effizienter zu schalten gibt

Der Perlentaucher war nie ein Start-up, sondern immer nur ein kleines Familienunternehmen, das von FAZ und SZ trotzdem erbittert bekämpft wurde - aber er ist lange genug dabei um zu wissen, dass die seit den von Blumencron genannten zwanzig Jahren betriebene Schönrednerei der Branche nicht weiterhilft. Sie schrumpft und schrumpft und schrumpft. Dann noch darüber zu mäkeln, dass es in Deutschland keine journalistischen Start-ups gibt, ist der Gipfel der Frechheit: Dass in Amerika Sachen ausprobiert wurden, während hier nichts entstand, liegt gerade auch an Medienhäusern, die Fantasie entwickeln und Start ups hätten gründen müssen. Statt dessen haben sie in den Garagen ihrer ehrwürdigen Institute Online-Ableger als Feigenblätter gegründet: Hauptziel war es, die jungen Redakteure nicht von Tarifgehältern profitieren zu lassen. Unter der Klassengesellschaft von den Alten aus dem Print mit hochdotierten Verträgen und prekären Jungen für die Bilderstrecken leiden die Institute bis heute auch inhaltlich.

Thierry Chervel