Günter Grass

Im Krebsgang

Eine Novelle
Cover: Im Krebsgang
Steidl Verlag, Göttingen 2002
ISBN 9783882438000
Gebunden, 224 Seiten, 18,00 EUR

Klappentext

Der Journalist, der hier in fremdem Auftrag schreibt, hat wenig Lust, die alte, fast vergessene Geschichte von der Schiffskatastrophe auszugraben, die sich 1945 in einer eisigen Januarnacht in der Ostsee abspielte. Er hat die Story, die unabweisbar Teil seiner Lebensgeschichte ist, hundertmal aus dem Mund seiner Mutter gehört. Jetzt, fünfzig Jahre später, beim Recherchieren im Internet, macht er die erschreckende Entdeckung, dass sie eine ihn unmittelbar betreffende Fortsetzung hat ...

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 20.02.2002

Der Literaturkritiker und -redakteur der taz, Dirk Knipphals, greift warnend in die Debatte um das neue Grass-Buch ein. Literarische Einwände, derer er viele hat, scheinen Knipphals nämlich keine Rolle zu spielen. Er vermutet, dass es sich bei der Novelle um ein "gesellschaftstherapeutisches Unternehmen" handelt, und dazu passt seiner Ansicht nach, dass selbst die gegnerischen Stimmen sich nicht konkret auf das Buch einlassen, sondern Grass bloß "ein Erstrecht in Sachen Tabubruch" bestreiten wollen. Für Knipphals ist die Novelle um den Untergang eines deutschen Passagierschiffes am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr als ein "literarisch tapeziertes historisches Feature", das, wenn man nicht mehr erwarte, mäßig interessant sei. Erzählerisch bleiben für Knipphals die eingeführten Figuren auf der Strecke, der häufige Perspektivenwechsel lasse ein durchdachtes Konstruktionsprinzip vermissen. Die Familiengeschichte sei verquast und bloß angerissen, und überhaupt findet Knipphals es geradezu anmaßend, dass sich der Autor in vermeintlicher Selbstanklage durch ein Alter ego in der Erzählung als Indikator beziehungsweise Katalysator für das Aufkommen neonationalsozialistischen Gedankenguts verantwortlich wähnt. Als Abhandlung über die unterschwellig gärende NS-Ideologie ist das ganze viel zu oberflächlich, befindet Knipphals.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.02.2002

Literatur spielt sich zwischen Moralität und Amoralität ab, schreibt Marius Mailer in seiner sehr ausführlichen Besprechung über Günter Grass' neue Novelle und zählt den Autor unbestritten zu den moralischen Autoren. Das muss der Leser mögen, wenn er einen Grass zur Hand nimmt, warnt der Rezensent. Denn erwartungsgemäß habe Grass auch mit dieser Novelle sich eines Themas moralisch angenommen. Ganz gespannt hat Mailer das Werk zur Hand genommen, wartet er doch seit "Hundejahre" Werk für Werk auf einen Grass der alten Qualität. Die ersten zwei Drittel von "Im Krebsgang", so der Rezensent, versprechen denn auch - abgesehen von den "bisweilen nervtötenden Internet-Fachbegriffen" - ein literarisch großer Wurf zu sein. Wäre da nicht der Fortgang, seufzt Mailer, der alles vermasselt. Die "geschickt angelegten Erzählstränge" - der Untergang der Wilhelm Gustloff, jenes mit vielen Tausend deutschen Flüchtlingen besetztes "Kraft-durch-Freude-Schiff", das 1945 von russischen Torpedos versenkt wurde, wird aus der Sicht von drei Generationen geschildert - liefen aus dem Ruder, am Ende mündeten sie gar in grobe moralische Klischees. Und so verkommt das letzte Drittel, bedauert der Rezensent, zur psychologischen und erzählerischen Farce, an deren Ende einzig die Hoffnung Mailers steht, dass der nächste Grass-Roman ein großer Wurf wird.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 09.02.2002

Grass wird viel Zustimmung und Beifall erhalten für seine politisch korrekte Novelle, mutmaßt der Rezensent Roman Bucheli. Aber nicht vom ihm! Denn Grass' literarische Aufarbeitung des Untergangs des Flüchtlingsschiffs "Gustloff" verdrießt Bucheli doch sehr. Nicht, dass er Grass das Aufgreifen eines Tabusthemas - der Schilderung der Verluste und des Leids der deutschen Zivilbevölkerung während des zweiten Weltkrieges - ankreiden würde, im Gegenteil: "Politisch ist ihm nichts vorzuwerfen." Aber wie Grass das Thema angeht, missfällt dem Rezensenten außerordentlich: "literarisch", so Bucheli, sei der Text "bis auf wenige Szenen belanglos". "Pedantisch" findet er das "didaktisch-belehrende Kalkül" der Novelle, die mit "einprägsam-schlichten Denkfiguren politischen Anschauungsunterricht" betreibe. Bei allem Respekt vor Grass, an seiner neuen Novelle lässt unser Rezensent kein gutes Haar: "Fadenscheinig hat er seinen Stoff gewoben, eher gut gemeint als gut gemacht".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 07.02.2002

Eine Überraschung stellt die literarische Verarbeitung des Untergangs der Wilhelm Gustloff, "dieses Kapitels der Vertreibung", durch Grass für den Rezensenten schon deshalb dar, weil der politische Werdegang des Autors ihn etwas Derartiges nicht hätte vermuten lassen. Überrascht ist Günter Franzen aber auch von einer mitunter "nervtötenden, an Behäbigkeit grenzenden Umstandskrämerei", die sich beim liebevollen Blick auf die Menschen "in dieser Nacht des Schreckens" unversehens als die verborgene Qualität des Textes erweist. Mit dem Hinweis des Rezensenten schließlich, dass der "von mir und meiner Generation jahrzehntelang befolgte Ernüchterungsappell" aus Mitscherlichs "Die Unfähigkeit zu trauern" "nur die halbe Wahrheit enthält", nun, da Grass "unsere Toten dem Vergessen entrissen hat", ist dem Buch auch kein eben geringes Kompliment gemacht.