Dan Diner

Versiegelte Zeit

Über den Stillstand in der islamischen Welt
Cover: Versiegelte Zeit
Propyläen Verlag, Berlin 2005
ISBN 9783549072448
Gebunden, 287 Seiten, 22,00 EUR

Klappentext

Die islamische Zivilisation, insbesondere ihre arabischen Kernländer, befinden sich in einer tiefgehenden Krise. Noch im Mittelalter der Christenheit in jeder Hinsicht überlegen, stagniert die Region des Vorderen Orients seitdem und nimmt an der Entwicklung, die der Westen von der Frühen Neuzeit an durchlaufen hat, nicht teil. Dies tritt heute, nach dem Ende des Kalten Krieges und unter den Bedingungen einer beschleunigenden Globalisierung, deutlicher zutage als je zuvor. Das Resultat sind im religiösen Gewand auftretender politischer Radikalismus einerseits, zaghafte Versuche, Anschluss an die Moderne zu finden, andererseits.
Der Historiker Dan Diner benennt die Ursachen dieser Entwicklungsblockade: Der diagnostizierte Stillstand ist weniger dem Islam als Religion geschuldet als vielmehr spezifischen sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Gegebenheiten des Vorderen Orients. Sie führen zu einer Allgegenwart des Sakralen auch in Bereichen, aus denen es andernorts auf dem Weg in die Moderne verdrängt worden ist. Historisch argumentierend und aus einer Fülle kaum bekannter Quellen schöpfend, eröffnet Diner einen neuen, erhellenden Blick auf eines der brisantesten Problemfelder unserer Zeit.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 14.02.2006

Dan Diners Studie über den zivilisatorischen Rückstand der arabisch-islamischen Welt hat Rezensent Reinhard Schulze einige neue Einsichten beschert, ganz überzeugen kann sie ihn nicht. Den Hauptgrund für den Entwicklungsrückstand sehe Diner in der Allgegenwart des Sakralen in der islamischen Welt, die er aus der Verfasstheit der islamischen Tradition erkläre. Die Ausführungen des Historikers zu dieser These findet Schulze "in sich schlüssig argumentiert" - solange man Diners Grundannahmen teile. Und hier hat der Rezensent seine Zweifel. Zum einen moniert er, dass Diner nicht erklärt, was dieses allgegenwärtige Sakrale eigentlich sei. Er verweist zudem darauf, dass das Sakrale für die islamische Theologie auf den islamischen Kult beschränkt ist. Die Auffassung, Islam sei die Einheit von Religion und Staat, sieht er nicht in der Tradition der islamischen Theologie verankert, sondern betrachtet sie als Produkt der islamischen Moderne. Fragwürdig erscheint ihn nicht zuletzt die Idee, es ließen sich eine islamische und eine europäische "Zivilisation" definieren. Trotz dieser Kritik hebt Schulze abschließend hervor, dass Diners Buch eine "Fülle anregender Detailanalysen" bietet.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.2006

Überzeugend findet Rezensent Wolfgang Günter Lerch Dan Diners Buch über die Ursachen des wirtschaftlichen und kulturellen Rückstands der islamischen Welt. Dabei setzte Diner nicht primär bei Imperialismus- und Kolonialismustheorien oder ökonomischen Erklärungen an. Im Zentrum des Buchs sieht Lerch vielmehr die "Verfugung des Sakralen mit der Politik und der Gesellschaft", für Diner das Haupthindernis für die Aufhebung einer "Entwicklungsblockade" in der arabisch-islamische Welt. Für den "interessantesten" und zugleich "strittigsten" Teil dieser Essays hält Lerch hierbei die Ausführungen über die Sakralität der Sprache, des Arabischen, die mit ihrem Charakter als exklusive Sprache der koranischen Offenbarung gegeben sei. Er lobt Diners Plädoyer für Selbstreflexion der islamische Zivilisation als "behutsam und ohne Schärfe". Insgesamt bescheinigt er dem Buch eine "Fülle von Gedanken und intellektuellen Querverbindungen". Daher gehört es für Lerch auch mit zum Anregendsten, "was in den vergangenen Jahren zu dem schwierigen Thema Islam und Islamismus publiziert worden ist."
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 07.01.2006

Durchaus aufschlussreich findet Jörg Später diese Arbeit Dan Diners über die Ursachen des Modernisierungsrückstands der arabischen Welt - auch wenn der Historiker manche Frage offen lässt. Einen Schlüssel zum Verständnis der Entwicklungsblockade sehe Diner im islamischen Geschichtsbegriff, in dem Bewegung und Entwicklung nicht vorgesehen sind, und in der beanspruchten islamischen Einheit von Religion und Herrschaft. Generell führe er das Defizit an Entwicklung auf ein Defizit an Säkularisierung zurück. Später hebt das weite thematische Panorama des Buches hervor. Neben Geopolitik und der sakralen Versiegelung der arabischen Sprache befasse sich Diner etwa mit dem Platz des Marktes im arabischen "Mittelalter" und dem islamischen Geschichtsverständnis. Methodisch bedeute dies ein Wechselspiel von gesellschaftskritischen und kulturtheoretischen Überlegungen, ein bisschen Marx und sehr viel Max Weber. Insgesamt lobt Später das "äußerst komplexe und intellektuell anregende Bild", das Diner in seiner Arbeit bietet. Allerdings bemängelt er Redundanzen sowie einige zirkuläre Argumentationen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 07.12.2005

Nicht völlig überzeugt ist Navid Kermani von Dan Diners Versuch, den Rückstand der arabischen Welt zu erklären. Dabei weiß er dem Buch durchaus positive Seiten abzugewinnen. Er lobt etwa den Tonfall des Buchs als nüchtern und frei von Polemik. Zudem unterstreicht er, dass Diner auf Pauschalurteile verzichtet und stattdessen einzelne, bislang eher selten wahrgenommene Aspekte unter die Lupe nimmt. Die Erklärungen des Autors aber sind für Kermani von unterschiedlicher Qualität. Er widmet sich vor allem Diners Argumentation, wonach die Kultur des Islams vollständig von den Buchstaben des Korans durchzogen sei, was die Modernisierung der arabischen Welt erschwert habe. Im Blick auf diesen Punkt kritisiert er Diner scharf und hält ihm vor, einzelne Funde der Islamwissenschaft zu nehmen und so zu verallgemeinern, "dass die Darstellung geradezu groteske Züge annimmt."

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 01.12.2005

Warum ist die islamische Welt gegenüber dem Westen so ins Hintertreffen geraten? Was nur ist schief gelaufen? Der in Jerusalem und Leipzig lehrende Historiker Dan Diner geht diesen Fragen in seinen Essays "Versiegelte Zeit" nach und seine Antwort ist eindeutig: Der islamischen Welt fehlt die politische Freiheit, die jede Entwicklung erst ermöglicht, die Gesellschaft und Öffentlichkeit von den Bevormundungen durch Staat und Religion befreit - ihr fehlt die Säkularisierung.. So weit scheint der Islamwissenschaftler Hein Halm den Ausführungen Dan Diners folgen zu wollen, aber was die weitergehenden Erklärungen betrifft, hält er Distanz. Diner erklärt die islamische Welt durch die Allgegenwart des Sakralen für quasi imprägniert, versiegelt gegenüber der Modernisierung. "Die Wirkung des Sakralen im Orient ist absolut", zitiert Halm Diner, der vor allem auf die Heiligkeit der arabischen Schrift verweist, die einen "Generalverdacht" gegen schriftlich Kultur überhaupt erzeugt habe (der Buchdruck wurde erst 1822 übernommen). Das aber, kritisiert Halm Diners These, stimmt einfach nicht. So werden entgegen Diners Behauptung, durchaus mit beweglichen Schrifttypen vervielfältigt (und nicht nur lithographisch oder fotomechanisch); und die Zeitungen würden jeden Tag beweisen, dass das Hocharabisch durchaus modern verwendet werden kann. Im Endeffekt, bemängelt Haml, reduziere Diner alles Tun und Trachten auf Religiöses und Sakrales, womit Halm überhaupt nicht einverstanden ist.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.10.2005

Die Frage des Buchs ist einfach, aber heikel, und dem Rezensenten Friedrich Niewöhner will sie offensichtlich nicht so recht einleuchten: Dan Diner will in seinem neuen Buch herausfinden, so erläutert er, warum die islamische Kultur, anders als die europäische, weder Aufklärung noch Entwicklung im westlichen Sinne kannte. Dafür eröffnet Diner nach Niewöhner eine areligiöse Perspektive auf das auch in muslimischen Ländern selbst beklagte Phänomen der Stagnation. Niewöhner zeigt sich sehr interessiert, aber nicht recht überzeugt von Diners Ausführungen. Zunächst findet er es zwar "erstaunlich, dass ausgerechnet ein israelischer Jude und Professor eines deutschen Instituts für die Geschichte und Kultur der Juden" ein solches Buch schreibt, dann erinnert er sich aber: "So etwas kann nur Dan Diner". Seinen Theorien etwa über das retardierende Moment der arabischen Hochsprache mag er nicht folgen: Versteht man Niewöhners Referat der Thesen Diners richtig, so verhindert die Hochsprache aus religiösen, aber auch national-arabischen Gründen die Entwicklung von modernen Schriftsprachen aus den mündlichen Dialekten des Arabischen. Niewöhner findet diese These "phantastisch" und wirft Diner vor, die "Resistenz religiöser Phänomene" zu verkennen. Tortzdem schließt er in hübscher Dialektik, habe Diner ein "anregendes und intelligentes Buch" geschrieben.
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