Hans Georg Behr

Fast eine Kindheit

Cover: Fast eine Kindheit
Die Andere Bibliothek/Eichborn, Frankfurt am Main 2002
ISBN 9783821845166
Gebunden, 355 Seiten, 27,50 EUR

Klappentext

Alle Autobiografien lügen. Das sind wir, seit Rousseaus Bekenntnissen, gewöhnt. Nicht immer liegt es an der Eitelkeit der Autoren oder daran, daß sie uns ein X für ein U vormachen wollen. Noch schwerer zu vermeiden ist der Umstand, daß man es hinterher immer anders und womöglich besser zu wissen glaubt. Dieser perspektivischen Falle zu entgehen, dazu braucht es mehr Kunst, ein besseres Gedächtnis und mehr Unbefangenheit, als den meisten von uns beschieden ist. Behrs Geschichte verzichtet auf die Retrospektive. Er erzählt sie von vorn, so, wie sie sich dem Fünf-, dem Zehn-, dem Vierzehnjährigen dargestellt hat.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 14.12.2002

Mehrere Einwände hat Christiane Zintzen gegen diesen "aufsehenerregenden Text". Vor allem konnte sie beim Lesen ihr "Unbehagen am Genre der Autobiografie" nicht ablegen, denn auch wenn der Autor darauf hinweist, Orte, Personen und Handlungen seien "natürlich frei erfunden", wäre das Buch wegen seiner "zufälligen Ähnlichkeiten" weitgehend als authentische Autobiografie anerkannt. Als solche rezensiert Christiane Zintzen das Buch dann auch. Sie bekommt den Eindruck der Autor versteckte sich "an der Grenze zwischen Journalismus und Literatur". So berichte das Buch vom Sohn eines NS-Funktionärs, der seine Zeit im Kreise Görings verbringt und, so das Buch, "schuldig geboren" sei. Doch, bemängelt die Rezensentin, "selbstredend sieht sich der Knabe dann den Schikanen all jener ausgesetzt, die sich nach dem Kriege eilig wieder als aufrechte Österreicher gerieren". Der Buchautor, der habilitierter Psychologe und versierter Magazinjournalist sei, erlaube sich einerseits keine wertende Bemerkung. Andererseits offenbart sich das Buch als "journalistisches Recycling jener narrativen Formfindungen für den kindlichen Gefühlskältetod, um welche Autoren wie Christine Lavant, Thomas Bernhard oder Franz Innerhofer ihr schaffendes Leben lang rangen".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 12.12.2002

Fast ein Wunder, dieses Buch, wenn man dem Rezensenten Jochen Jung Glauben schenken kann. So recht Besonderes nämlich wird zwar nicht erzählt, dies aber auf offenkundig bezwingende Weise. Der Ich-Erzähler, der mit dem 1937 geborenen Autor viel gemein hat, wächst in Niederösterreich auf, in beinahe besten Kreisen, jedoch ist der Vater ein Nazi und nach dem Krieg wird er hingerichtet. Von der Kindheit in diesem Milieu erzählt das Buch, und zwar, das ist der eigentliche Clou, aus der Perspektive des Kindes, die sich der Autor als ganz eigene Sprache dem eigenen Erleben nach-erfunden hat. Jung lobt die "kluge Dummheit" des erzählerisch installierten Blicks und konstatiert, dass er "eine vollkommen unsentimentale, ja harte Wahrnehmung" erlaube, die zudem den Vorzug hat, dass "der Kommentar so in der Erzählung steckt wie die Gräten im Fisch". Herausgekommen sei dabei, so der Rezensent, ein Roman als Autobiografie und am Ende "eine große Moritat".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.10.2002

Hans-Georg Behr hat schon viel in seinem Leben gemacht, weiß Sven Hanuschek. Der Autor hat, listet der Rezensent auf, mehrfach promoviert, "profunde" Sachbücher geschrieben, längere Zeit in Indien gelebt und schließlich ein "Haschisch-Kochbuch" verfasst und damit 1969 für einige Aufregung gesorgt. Nun hat sich der Autor, so Hanuschek, seiner Kindheit zugewandt und eine "sprachsatte" Autobiografie mit literarischer Stilisierung geschrieben, die "bewegt" und "erschüttert", aber auch "streckenweise komisch" sei. Allein schon inhaltlich warte der Autor mit einem "sensationellen Stoff" auf. Der Vater war deutscher NS-Offizier und wurde im Zuge der Nürnberger Prozesse gehängt, die Mutter war eine österreichische Opernsängerin, die Großeltern waren "antiklerikal" und "antifaschistisch", eine Tante jüdisch, der Bruder wurde mit 14 Jahren vor den Augen des Protagonisten von den Russen erschossen. All das teile der Autor aus der Perspektive des "kindlichen Protagonisten" mit. Der Stoff dieses Lebens ist "singulär", meint Hanuschek, dessen Verarbeitung allerdings nicht. Trotzdem sieht der Rezensent dem Autor manche literarische Schwäche nach, denn die vielen zeitgeschichtlichen, politischen und "dialektalen" Details ließen die Kritik am Stil schnell in Vergessenheit geraten.