Helmut Walser Smith

Die Geschichte des Schlachters

Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt
Cover: Die Geschichte des Schlachters
Wallstein Verlag, Göttingen 2002
ISBN 9783892446125
Gebunden, 304 Seiten, 29,00 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Im März 1900 wird in der ländlichen Kleinstadt Konitz am östlichen Ende des Deutschen Reiches der Torso des 18jährigen Ernst Winter unter dem Eis entdeckt. Die Bevölkerung der Provinzstadt ist von dieser grausamen Tat schockiert, und die Gerüchteküche brodelt. Bald konzentrieren sich die Verdächtigungen auf den jüdischen Schlachter, und Ritualmordsvorwürfe werden laut. Die Stadt explodiert in antisemitischer Wut, so dass die Lokalbehörden das Militär zu Hilfe rufen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Helmut Walser Smith rollt anhand von Dokumenten den Mordfall noch einmal auf und macht deutlich, wie ein Ensemble unterschiedlichster Vorurteile - über Juden, soziale Klassen, Sexualität und das Denken von Verbrechern - die Ermittlungen beeinträchtigte und möglicherweise sowohl die Polizei als auch die Stadtbewohner blind machte für die Identität und die näheren Lebensumstände des wirklichen Mörders unter ihnen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.03.2003

Mit einfachen Erklärungen à la Goldhagen gibt sich sein Landsmann Helmut Walser Smith nicht ab, beugt Christoph Jahr möglichen Vorurteilen vor. Unter mehreren Büchern, die sich alle mit den Konitzer Vorfällen im Jahr 1900 befassen, bei denen es nach dem Mord an einem Gymnasiasten zu pogromartigen antisemitischen Ausschreitungen kam, liefert ihm diese Untersuchung die schlüssigste Argumentation. Anders als Walser Smiths deutscher Kollege Christoph Nonn, der sich ebenfalls mit den Konitzer Vorgängen beschäftigt hat ("Eine Stadt sucht einen Mörder") und der in den antisemitischen Ausschreitungen eher eine anthropologische Konstante erkennen konnte, analysiert Walser Smith die aus dem Mittelalter stammende Ritualmord-Legende, die in einem quasi rituellen Ablauf den Juden untergeschoben wurde. Sozusagen eine Verkehrung der Tatsachen, fasst Jahr die Ergebnisse seiner Lektüre zusammen: nicht die Juden, sondern die Christen begingen einen rituellen Mord. Indem Walser Smith die mittelalterliche antisemitische Tradition mit einbezieht, liefert er nebenbei einen interessanten Beitrag zur Kulturgeschichte des Antisemitismus, so Jahr.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 16.12.2002

Die Ermordung eines 18-Jährigen Gymnasiasten im Jahr 1900 in der westpreußischen Stadt Konitz führte in der Folge zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung der Stadt, der die Nichtjuden die Schuld an diesem furchtbaren Verbrechen gaben, berichtet Benjamin Ziemann. Mit den Einzelheiten dieses Falls hat sich der US-Amerikaner Helmut W. Smith beschäftigt - zeitgleich zu der Studie "Eine Stadt sucht einen Mörder" des Deutschen Christoph Nonn. Im Gegensatz zu Nonn, der sich mehr der Motivanalyse nach Max Weber verschrieben hat, gehe Smith dem Fall mit kulturanthropologischen Theorien von Clifford Geertz und Victor Turner auf den Grund und präsentiere dem Leser einen "gelehrten" und "informativen" Exkurs über den Ritualmordvorwurf seit dem 12. Jahrhundert und stelle den Antisemitismus in den Mittelpunkt seiner Studie, lobt der Rezensent. Der findet zwar auch die Motivanalyse von Nonn spannend, meint aber, dass Smith die Ereignisse von damals umfassender und nachvollziehbarer interpretiere als sein deutscher Kollege.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 24.10.2002

Mit dem Konitz-Pogrom von 1900 beschäftigt sich hier ein US-amerikanischer Historiker, dem von vornherein Konitz als Präludium zu Auschwitz gilt, schreibt Volker Ullrich. Dabei grenzt sich Helmut Walser Smith durchaus von simplen Thesen á la Goldhagen ab, findet der Rezensent. Vielmehr gehe es Smith um die Beschreibung eines "historischen Prozesses", in dem der latente Antisemitismus sich "manifestiert". Ullrich lobt den "präzisen mikrogeschichtlichen Zugriff", der ein "tiefenscharfes Bild" entwirft. Für Smith sei die Ritualmordlegende nicht interessant als "Medium" von Geltungsbedürfnissen, sondern sie ist eines der "Bruchstücke einer Erzählung", die "direkt hineinführt ins trübe Reich antisemitischer Fiktionen und Fantasien". Volker Ullrich lobt Smith, dass er die "Virulenz" des Antisemitismus in einem konkreten Fall deutlich gemacht hat.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.10.2002

Ein schöner Zufall: Zwei Wissenschaftler arbeiten gleichzeitig am gleichen Thema. Der Trierer Historiker Christoph Nonn sowie der Amerikaner Helmut Walser Smith untersuchen einen Mordfall im Kaiserreich, der antisemitische Ausschreitungen zur Folge hatte. Beide Bücher sind akribisch recherchiert, pflegen die direkte Rede, haben unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und kommen teilweise zu verschiedenen Schlüssen. Gangolf Hübinger stellt sie vor.

Zunächst liefert Hübinger die Basisdaten zum sogenannten "Konitz-Mord". In dem westpreußischen Städtchen wurde im Jahr 1900 die zerstückelte Leiche eines Gymnasiasten aufgefunden, der Mordfall konnte nie richtig geklärt werden. Während die Polizei im Dunkeln tappte, wurden in Windeseile antisemitische Stereotypen virulent, es kam zu einer antijüdischen Hetzkampagne und Ausschreitungen, viele jüdische Einwohner zogen fort. Hübinger zufolge arbeitet Nonn in seinem Buch "Eine Stadt sucht einen Mörder" die wirtschafts- und politikgeschichtlichen Aspekte des Themas auf; ihn interessiert die soziale Kraft des Gerüchtes, die Bereitschaft zur Denunziation, er analysiert die politische Konstellation (kurz vor einer Landtagswahl) und berücksichtigt die ökonomische Schere, die die Agrarregion ins Abseits drängte. Nonn, resümiert Hübinger, sieht Konitz, auch wenn es von ihm klar als antisemitischer Vorgang behandelt wird, nicht als "Meilenstein auf dem Weg nach Auschwitz". Für ihn beruhe das Amalgam aus sozialen Härten und mentalem Klima eher auf anthropologischen Konstanten.

Anders als bei seinem Kollegen Nonn, mit dem sich Helmut Walser Smith in der Frühphase der Arbeit auch ausgetauscht hat und auf dessen methodisch anders gewichtete Arbeit er fairerweise sogar verweist, wie Gangolf Hübinger berichtet, stellt Smith in "Die Geschichte des Schlachters" den Konitz-Mord sehr wohl in einen Kontinuitätszusammenhang mit der Geschichte des Dritten Reiches, auch wenn die Konitzer Juden durch das Einschreiten des preußischen Militärs geschützt wurden. Smith nähert sich seinem Fall ganz anders, so Hübinger: Er berichtet aus der Perspektive eines der Beteiligten, der verdächtig war, den Verdacht von sich abzulenken. Durch diesen Kunstgriff können die antijüdischen Stereotypen noch einmal durchgespielt werden, erklärt Hübinger, denen Smith mit eher literaturwissenschaftlichen Kategorien zu Leibe rücke und die er kulturgeschichtlich verdrahte: von der mittelalterlichen Transsubstantiationslehre zum modernen Antisemitismus. Für Smith ist der Befund klar, sagt der Rezensent, sein Stufenmodell der kleinstädtischen Kollektiverzählung und Mythenbildung überzeuge. Smith plädiere - darin mit seinem Kollege Nonn einig - dafür, die Unterscheidung zwischen altem Antijudaismus und modernen Antisemitismus endlich fallen zu lassen.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.10.2002

"Eine Stadt sucht einen Mörder" und "Die Geschichte des Schlachters": zwei Bücher zum selben Fall, unabhängig voneinander recherchiert und nur gemeinsam zu besprechen. Peter Schöttler findet es in seiner taz-Rezension erstaunlich, wie unterschiedlich das Quellenmaterial zu einem Mord, der 1900 in der Kleinstadt Konitz stattgefunden und zu antisemitischen Ausschreitungen geführt hat, von den beiden Historikern, die diese Studien verfasst haben, aufgearbeitet wurde. Er betrachtet diese beiden Studien "als eine Art unfreiwilliges geschichtswissenschaftliches Experiment", bei der trotz ähnlicher Quellenlage und Bezugnahme auf das gleiche geschichtswissenschaftliche Verfahren (die 'historische Anthropologie') komplett unterschiedliche Interpretationen herauskommen.

Mit Christoph Nonns Arbeit "Eine Stadt sucht einen Mörder" ist der Rezensent nicht sehr zufrieden. Das Buch kommt ihm einfach zu unwissenschaftlich daher, der Autor ist eher als Reporter denn als akribischer Rechercheur unterwegs und lässt "seiner Fantasie freien Lauf". Dabei ist nach Schöttlers Meinung "eine Mikrogeschichte an der Grenze zur historischen Belletristik" herausgekommen, der man das Aktenstudium ihres Verfassers nicht mehr wirklich anmerkt. Der Rezensent vermutet, dass es dem Autor gar nicht so sehr um die Entwirrung dieses speziellen Kriminalfalls geht, sondern dass er viel mehr an der "Psychologie des Gerüchts" interessiert ist. Deshalb kommt der antisemitische Hintergrund der Geschichte auch viel zu kurz.

"Die Geschichte des Schlachters" von Helmut Walser Smith lobt Schöttler dagegen als "eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung" dieses wegen der späteren Ausschlachtung durch die Nazis relativ bekannten Falls. Deswegen gelingt es dem Autor auch, am Schluss eine plausible Erklärung der Ereignisse vorzulegen. Peter Schöttler lobt ganz explizit das vielseitige Quellenstudium des Autors, der auch polnische Archive aufgesucht hat und sich mit mittelalterlichen Pogromen gegen Juden beschäftigt hat. Entscheidend für die Krawalle, die auf den Mord folgte, war nach Walser Smiths Meinung der "ebenso latente wie strukturelle Antisemitismus" der damaligen Gesellschaft - eine Einschätzung, der auch Schöttler zustimmt.