Michael Wildt

Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung

Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939
Cover: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung
Hamburger Edition, Hamburg 2007
ISBN 9783936096743
Gebunden, 423 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

Die "Volksgemeinschaft" hatte seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland in nahezu allen Parteien politische Konjunktur. Aber während der Begriff bei den Sozialdemokraten beispielsweise ein Synonym für die inkludierende Einheit aller Schaffenden darstellte, war die "Volksgemeinschaft" bei der Rechten, insbesondere bei den Nationalsozialisten, vor allem durch Exklusion bestimmt. Nicht so sehr die Frage, wer zur "Volksgemeinschaft" gehörte, beschäftigte sie, als vielmehr, wer nicht zu ihr gehören durfte, allen voran die Juden. Deshalb besaß der Antisemitismus für die praktische Volksgemeinschaftspolitik des NS-Regimes einen zentralen Stellenwert. Die bürgerliche Zivilgesellschaft in eine rassistische Volksgemeinschaft zu verwandeln, konnte nicht per "Führererlass" oder Gesetz erfolgen. Michael Wildt beschreibt diese Transformation als einen politischen Prozess und untersucht die Ereignisse nicht nur innerhalb der großen Städte, sondern gerade in der Provinz, in den Dörfern und kleinen Gemeinden.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 29.12.2008

Diesem Band des Historikers Michael Wildt kann Anke Schwarzer Aufschlussreiches über die Manifestation des Antisemitismus im "Volksgemeinschaftsprojekt" zwischen zwischen 1919 und 1939 entnehmen. Was Wildt unter anderem mittels einer (von Schwarzer als weniger ertragreich empfundenen) Gegenüberstellung von Stadt und Land, vor allem aber durch die systematische Auswertung von 3744 Quellendokumenten (Ortsgruppenberichte deutsch-jüdischer Verbände, Lageberichte von Gestapo, Landräten und Bürgermeistern) über die alltägliche Praxis ans Licht bringt, lässt Schwarzer erkennen, dass antisemitische Gewalt "Ziel und Mittel" der Volksgemeinschaft war und "durch Ausschluss hergestellt" wurde. Die vom Autor vorgeschlagene Fokussierung weniger auf die staatlichen Stellen und ihre Verordnungen, als auf das Verhalten von Kollegen, Nachbarn, Kund- und Bekanntschaft, erscheint Schwarzer sinnvoll.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2007

Klaus Hildebrand zeigt sich von der Studie Michael Wildts, in der der Historiker die Entwicklung von der bürgerlichen Gesellschaft in die rassistische Volksgemeinschaft vornehmlich in der deutschen Provinz zwischen 1919 und 1939 analysiert, sehr angetan. Transparent stelle der Autor dar, wie sich aus der alltäglich praktizierten Gewalt gegen Juden die "Volksgemeinschaftspolitik" der Nationalsozialisten konstituierte, lobt der Rezensent. Interessiert nimmt er auch die Darstellung Wildts zur Kenntnis, dass die entfesselte Gewalt der rassistisch aufgewiegelten Bevölkerung gegen die jüdischen Mitbürger zeitweise für die Nationalisten problematisch wurde, weil sie gegen anarchische Alleingänge einschreiten mussten und Gewalt gegen Juden erst einer juristischen Legitimation bedurfte, die - noch - nicht vorhanden war.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 22.09.2007

Michael Wildts Studie über die "Volksgemeinschaft" vor und während des Nationalsozialismus hat Rezensent Paul Nolte sehr beeindruckt, auch wenn er nicht immer die Auffassung des Autors teilt. Im Mittelpunkt der quellengesättigten Arbeit sieht er die Frage, wie sich die Volksgemeinschaft in der Provinz im Vollzug der Ausgrenzung anderer, der Gewalt gegen Juden, konstituierte. Dazu untersuche der Historiker die Verbindung der Gewaltdisposition des Regimes und der Gewaltbereitschaft "an der Basis", verdeutliche die Kontinuität der Verhaltensmuster bei lokalen Gewaltaktionen gegen Juden und arbeite die aktive Rolle der Zuschauer und Mitläufer heraus. Nolte begrüßt, dass Wildt seinen Focus auf Ausgrenzung und Verfolgung im ländlichen und kleinstädtischen Milieu, in der Provinz lenkt. Allerdings bleiben für ihn gerade hier Fragen offen. Vor allem hält er dem Autor in diesem Zusammenhang vor, "Provinz" bleibe bei ihm ein "pauschaler Sammelbegriff". Fraglich scheint ihm Wildts Ansicht, die Unterscheidung nach Provinz oder Zentrum sei ziemlich unerheblich. Gleichwohl würdigt Nolte die "Bedeutung vieler Ergebnisse" und die "Eindringlichkeit ihrer Darstellung" und hebt hervor, dass die Studie Grundmuster, Handlungsfelder und Anlässe der judenfeindlichen Gewalt verdeutlicht. Zudem lobt er den gut lesbaren Stil des Autors und die anregenden intellektuellen Verknüpfungen, in die der Verfasser sein empirisches Material stellt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 16.05.2007

Michael Wildt könne als erster eine Übersicht antijüdischer Aktionen "von unten" in Deutschland vorlegen, wobei er Quellen von beiden Seiten heranziehe, von den Tätern und den Verfolgten selbst. Ganz zufrieden ist er mit der Studie aber nicht. Als "unschön" wirft Rezensent Ahlrich Meyer allerdings dem Autor vor, aus Regionalstudien ganze Abschnitte ohne Kenntlichmachung zu übernehmen. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung sei "plausibel", so der Rezensent, bleibe aber ohne Begründung. Von den verschiedenen Erklärungsversuchen für das "erschreckende Panorama" an selbstständigem Antisemitismus sei der Rückgriff auf Hanna Arendts Konzept der Komplizenschaft letztlich am überzeugendsten. Bei der Charakterisierung der politischen Ordnung des Nationalsozialismus hat der Rezensent jedoch seine Schwierigkeiten, wenn dies anhand eines normativen Begriffs des Rechtsstaats geschehe. Insgesamt könne Michael Wildt so manche "milde Legende" entkräften, vor allem die vom gleichgültigen Wegsehen der Mehrheit.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 22.03.2007

Erschütternd findet Volker Ullrich, was der Historiker Michael Wildt über die alltägliche Repression, Ausgrenzung und Schikanierung der Juden in Deutschland nach 1933 zusammengetragen hat. Haben sich die meisten Historiker bisher auf die Lage in den Großstädten konzentriert, blickt Wildt auf die Geschehnisse in der Provinz. Dafür hat er, informiert Ullrich, die Akten des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) als Quelle nutzen können, die bis in die 90er Jahre in Moskauer Archiven lagerten. Dabei hat sich dem Historiker herausgestellt, dass Ausgrenzung, Unterdrückung und Entrechtlichung der Jüdischen Bevölkerung nicht unbedingt von der Parteiführung aufoktroyiert war, sondern vielmals von unten forciert war, wobei sich Bevölkerung und NS-Führung gegenseitig radikalisierten. So habe es, referiert Ullrich die Ergebnisse des Autors, bereits Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte gegeben, bevor am 1. April 1933 ein reichsweiter Boykott erlassen wurde. Leichte Kritik äußert Ullrich nur daran, dass Wildt die Ergebnisse von Götz Alys Arbeit zu den finanziellen Angeboten nicht aufnimmt, die das Regime der judenfeindlichen Bevölkerung gemacht hat.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 21.03.2007

Der Historiker Hans Mommsen setzt sich ausschließlich inhaltlich mit Michael Wildts Studie zur Gewalt gegen Juden von 1919 bis 1939 auseinander. Er stimmt mit Wildts Schlussfolgerungen dabei meistens nicht überein, bescheinigt dem Buch aber, der Diskussion über die "Ursachen und Tiefenwirkungen" der Judenverfolgung neue Impulse zu geben. Wildt sehe die Verfolgung der Juden als Katalysator für die Durchsetzung der "Volksgemeinschaft", die wiederum schon in der Einrichtung des volksgewählten Reichspräsidenten in der Weimarer Verfassung zu manifestieren begann. Der Einschätzung Wildts, die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten habe die Judenverfolgung nur verstärkt, aber nicht qualitativ auf eine neue Stufe gestellt, widerspricht Mommsen. Und das Argument, dass die "Volksgemeinschaft" durch die gemeinsame Gewalt gegen Juden konsolidiert wurde, kann den Rezensent aufgrund der alles in allem geringen aktiven Beteiligung der Bevölkerung "nicht recht überzeugen". Judenverfolgung und "Volksgemeinschaft" seien wohl nicht so eng verknüpft, wie Wildt es darstelle.