Orlando Figes

Die Flüsterer

Leben in Stalins Russland
Cover: Die Flüsterer
Berlin Verlag, Berlin 2008
ISBN 9783827007452
Gebunden, 1036 Seiten, 34,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Viele Darstellungen behandeln die sichtbaren Aspekte der stalinistischen Diktatur: die Verhaftungen und Prozesse, die Versklavung und das Morden in den Gulags. Kein Buch hat jedoch bislang die Auswirkungen des Regimes auf das Privat- und Familienleben der Menschen untersucht, den "Stalinismus, der uns alle ergriff", wie es ein russischer Historiker einmal formuliert hat. Auf der Basis von Hunderten Interviews mit Zeitzeugen und zahllosen bislang unbekannten Dokumenten liefert nun Orlando Figes in "Die Flüsterer" erstmals einen unmittelbaren Einblick in die Innenwelt gewöhnlicher Sowjetbürger und zeigt an zahlreichen eindringlichen Beispielen, wie Einzelne oder Familien in einem von Misstrauen, Angst, Kompromissen und Verrat beherrschten Alltag um ihr Überleben kämpften. Für die Zeit der Revolution von 1917 bis zu Stalins Tod und darüber hinaus rekonstruiert Figes das moralische Gespinst, in dem sich die allermeisten Russen gefangen sahen: Eine einzige falsche Bewegung konnte eine Familie zerstören oder am Ende womöglich deren Rettung bedeuten. Keiner konnte sich sicher fühlen, nicht einmal die überzeugtesten Anhänger des Regimes. Wahrheit und Wahn, Schuld und Unschuld waren in diesem Unterdrückungssystem immer wieder fatal miteinander verquickt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2008

Für sehr verdienstvoll hält Rezensent Gottfried Schramm dieses Kompendium, in dem der britische Historiker Orlando Figes die Geschichten von russischen Familien zusammenträgt, die Opfer der Stalin'schen Terrorherrschaft wurden. Mit Erschütterung hat Schramm gelesen, wie der "Blitz des Terrors" in meist regimetreue Kreise hineinfuhr, Kinder ihre Eltern verrieten, Mutige halfen und Opportunisten kuschten. Wichtig findet er dies auch angesichts der zunehmenden "Unverfrorenheit", mit der in Putin und Medwedjews Russland die dunkle Vergangenheit ausgeblendet wird. Aber ganz neu ist dies alles dem Rezensenten nicht, dessen Begeisterung über diese Arbeit Grenzen hat: Auf 1000 Seiten habe Figes sein Thema unnötig "aufgeschwemmt", endlos reiht er einzelne Schicksale, Orte Situationen und Personen aneinander, ohne sie jemals richtig zu durchdringen. Auch den Anspruch, die Schicksale von Durchschnittsbürgern festzuhalten, sieht Schramm dadurch konterkariert, dass sich Figes besonders auf den Literaturfunktionär Konstantin Simonow kapriziert. Schließlich hätte sich der Rezensent, selbst emeritierter Osteuropa-Historiker, bei diesem Umfang auch die eine oder andere Erkenntnis erhofft.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.10.2008

Rezensent Jens Bisky legt uns zwei Bücher ans Herz, die fast zeitgleich erscheinen und sich beide in ganz neuer Dringlichkeit mit den stalinistischen Schreckensjahren beschäftigen. Anders als Karl Schlögel in seinem "Moskau 1937" verfolgt der britische Historiker Orlando Figes in seinen Buch "Die Flüsterer" einzelne Biografien und Familiengeschichten, die er zusammen mit der russischen Gedenkorganisation Memorial zusammengetragen hat. Eine "Welt des Unglücks" hat Bisky dabei schaudernd betreten, in der "Rechtlosigkeit, Angst, Sklavenarbeit, Verrat, Heuchelei" herrschten. Beeindruckt haben ihn dabei vor allem die Darstellung des Literaturkaders und Stalin-Günstlings Konstantin Simonow wie auch die der Antonina Golowina: Sie wurde als Tochter von Kulaken mit acht Jahren verbannt, beschloss mit 18, ihre Herkunft durch besonders eiserne Karriere wiedergutzumachen. Am Ende ihres Lebens stellte sich heraus, dass ihre beiden Ehemännern ebenfalls aus verfolgten Familien stammten, ohne dass sie jemals darüber gesprochen hätten.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 13.10.2008

Als "eine der bewegendsten und instruktivsten Lektüren seit langem" lobt der Historiker Gerd Koenen dieses Buch seines britischen Kollegen Orlando Figues. Wie Figues hier einen Zugang zu dem Unrecht eröffnet, das den Menschen der Sowjetunion angetan wurde, hat Koenen immer wieder verwirrt, berührt und bestürzt. Deutlich wurde ihm dabei auch, welch geradezu archäologische Arbeit der Historiker hier leisten musste, um all das Leid und die Traumata zutage zu befördern, die in den Tiefen der Verdrängung und Versiegelung verborgen lagen. Dafür hat Figues, wie Koenen anerkennend berichtet, eine Unzahl von Memoiren gelesen, Archive durchstöbert und Interviews ausgewertet, die Aktivisten der Menschenrechtsorganisation "Memorial" geführt haben. Im Vordergrund des Buches steht nach der Revolution geborene Oktoberkinder und ihre Familien, deren Schicksale den Rezensenten ebenso tief berührt haben wie auch der hilflose Umgang, die Verdrängung und Kompensation des Erlittenen. Auch zu erfahren, dass viele über Jahrzehnte nicht von ihrem Schicksal gesprochen haben, hat den Rezensenten sehr bewegt, der für Russland noch viel Trauerarbeit anstehen sieht.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.10.2008

Mit Faszination, Grauen und vor allem großem Respekt hat Rezensent Matthias Lohre dieses Mammutwerk gelesen, das er als "Vermächtnis" einer verstummten Generation feiert. Und als Buch von bislang unerreichter Verknüpfung von Detailgenauigkeit, Analyse und Anschaulichkeit. Seinen Informationen zufolge versammelt das über tausendseitige Werk Geschichten und Zeitzeugnisse von Menschen in den Jahren des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion. Mit leichter Hand sieht der Rezensent den britischen Historiker darin intime Szenen aus historischen und eigene politische Analysen über Art und Ursprünge des Terrors miteinander zu einem fremdartigen wie komplexen Bild verweben, das ihm einen tiefen Einblick in die Mentalität der Epoche verschafft. Einziger Kritikpunkt des Rezensenten ist die Überfülle von dokumentierten Einzelschicksalen, die sich aus seiner Sicht kontraproduktiv auf das Anliegen Orlando Figes? auswirkt, aus den "Menschenmassen der Toten und Bedrängten" wieder Einzelschicksale zu machen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 16.08.2008

Orlando Figes' voluminöse Studie über das "Leben in Stalins Russland" hat Rudolf Walther tief beeindruckt. Er würdigt sie als erste umfassende quellenbasierte Untersuchtung zum Privat- und Familienleben von Opfern von Deportation und Zwangsarbeit sowie von Kollaborateuren in der Sowjetunion. Im Mittelpunkt des eine ungeheure Fülle von Material auswertenden Buchs findet er die Dokumentation von neun Familienschicksalen. Sie verdeutlich für ihn die große Rolle, die Schweigen und Denunzieren unter Stalin spielten. Er bescheinigt dem Autor, das Leben von Opfern des Gulag und ihren Familienangehörigen im sowjetischen Alltag zu erhellen. Dabei ergänze Figes unser Wissen über das stalinistische Lagersystem um Gesichter, "in denen die ganze Abgründigkeit des Stalinismus sichtbar wird und die jeden erschüttern". Walthers Fazit: ein "wichtiges Buch".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.08.2008

Meisterhaft erzählt und kunstvoll arrangiert findet Rezensent Jörg Baberowski dieses Werk über den Alltag in der Sowjetunion Josef Stalins, in dem Menschen unter dem Druck des Terrors als Individuen verschwunden und zu den titelgebenden "Flüsterern" geworden seien. Aus dieser Welt erzeuge der britische Historiker Bilder und Stimmungen, die man nie wieder vergesse. Bringe Menschen zum Sprechen und rufe Lebensgeschichten aus dem Vergessen zurück, die beim Lesen ein Panorama der stalinistischen Zivilisation ergeben, wie es nach Ansicht des Rezensenten in dieser Form noch nie beschrieben worden ist. Immer wieder zeigt sich Baberowski von Einzeldarstellungen erschüttert und schockiert über die alles beherrschende Atmosphäre des Hasses, der Angst und des Fanatismus. Doch Orlando Figes habe den Menschen jener finsteren Epoche und ihren Leiden mit seinem "wunderbaren Buch" nun ein Denkmal gesetzt.