Ryszard Kapuscinski

Ein Paradies für Ethnografen

Polnische Geschichten
Cover: Ein Paradies für Ethnografen
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010
ISBN 9783821858371
Gebunden, 176 Seiten, 16,95 EUR

Klappentext

Aus dem Polnischen von Martin Pollack und Renate Schmidgall. Eine Zeitreise in die Jahre nach dem Krieg: Ryszard Kapuscinskis literarische Reportagen über sein Heimatland Polen - und das Verhältnis zu Deutschland. Es ist der 11. September 1961, Montag. Zwei Frauen fliehen aus einem Altersheim in Szczytwo, Mutter und Tochter, Augusta und Margot. Sie kaufen zwei Fahrkarten und fahren mit der Bahn durch die schöne Landschaft der Masuren. Ihr Ziel ist Taubus, besser gesagt, das ehemalige Taubus, das jetzt Olecko heißt. Zwei Frauen, grau, erschöpft, entschlossen. Sie wollen ihr Haus am Ringplatz in Taubus zurück, sagen sie, weil Polen doch jetzt wieder deutsch sei. Die Helden in Kapuscinskis Reportagen, die in Wahrheit immer auch Erzählungen sind, sind kleine Leute: Umsiedler, die das Schicksal von einem Ende Polens an das andere geworfen hat, Menschen auf der Suche nach Arbeit und besseren Löhnen, deutsche Frauen, die sich nach Kriegsende nicht mehr zurechtfinden. Die große Politik bleibt ausgesperrt, stattdessen belauscht Kapuscinski die Gespräche und findet die Geschichten, in denen die Wirklichkeit jener Zeit - der fünfziger und sechziger Jahre in Polen - aufscheint.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.2010

Marta Kijowska freut sich ungemein über diesen Band mit Reportagen von Ryszard Kapuscinski aus den Jahren 1959-1961. Entstanden für die polnische Wochenzeitschrift "Polityka" bilden sie mit ihren Durchschnittshelden laut Kijowska die ganz eigene Aura der Zeit der sogenannten kleinen Stabilisierung nach den stalinistischen Schreckensjahren ab. Dass bei Kapuscinski die Tristesse glanzvoll werden konnte, führt die Rezensentin auf den literarischen Reportagestil des Autors zurück, seine intime Perspektive, sein Vertrauen auf Zufälle und den oft parabolischen Charakter seiner Geschichten. Wenn darüber die polnische Wirklichkeit verfremdet erscheint und leicht absurd, so stört das die Rezensentin selbstverständlich nicht.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 10.07.2010

Als "Sittenbild der provinziellen Nachkriegsgesellschaft in Mitteleuropa" ist diese Sammlung mit Reportagen auf das Interesse von Isabel Metzger gestoßen. Dem legendären polnischen Reporter bescheinigt sie schon in diesen frühen Texten eine bildgewaltige Sprache und eine "Entdeckerfreude an winzigen Details", die ihr aus jeder Zeile entgegen springt. Die Atmosphäre der Texte spiegelt für sie auch das Wilde der polnischen Natur wieder, die sich das kriegszerstörte Land in den ersten Nachkriegsjahren zurückerobert habe. Gelegentlich wirken die Texte auch wie eingefrorene Bilder auf sie, in denen die Zeit stehen blieb. Manchmal stört sie jedoch, dass Ryszard Kapuscinski bei der "nostalgischen Verklärung" der Provinz sowie der Verwandlung mancher Phänomene in schwülstige Metaphern mitunter etwas über das Ziel hinausschießt. Grundsätzlich aber schätzt sie die Textsammlung sehr, auch als Ort, der Liebhabern der Prosa dieses Autors "unverzichtbare Materialfunde" ermöglicht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 01.07.2010

Die frühen Reportagen aus der polnischen Provinz des bekanntesten polnischen Auslandskorrespondenten Ryszard Kapuscinski schließen für den Rezensenten Ulrich Baron an die absurd-komischen Geschichten aus Masuren von Siegfried Lenz an. Die 16 Reportagen sind zwischen 1959 und 1962 vor allem für das Warschauer Magazin "Polityka" entstanden. Kapzscinski begab sich damals in abgeschiedene Ecken Polens, um aus der "Froschperspektive" seine grotesken Geschichten zu erzählen, erzählt der Rezensent, den das Ergebnis nicht selten an Beckett erinnert. Etwa wenn Kapuscinski eine deutsche Greisin mit ihrer betagten Tochter beschreibt, die von verständnislosen Dorfbewohnern die Rückgabe ihres Hauses fordern, stellt der Rezensent fest. Allerdings runde der Autor seine Geschichten häufig mit einem Schuss Sozialismus ab, der Baron durchaus "auswendig gelernt" erscheint. Um "Beschönigungen" aber, das betont Baron, ging es Kapuscinski nicht, dafür wandte er sich viel zu gern dem "Unbewältigten" und den Außenseitern zu. Für den 1932 geborenen Kapuscinski sei der Krieg prägend gewesen, die Friedenswelt erschien ihm dagegen "fremd" und trügerisch, so Baron.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 03.06.2010

Noch nicht meisterhaft, aber durchaus beeindruckend findet Rezensent Karl-Markus Gauß die nun erschienenen frühen Reportagen des polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, der durch die Biografie des polnischen Journalisten Artur Domoslawski ein wenig an Glanz eingebüßt hat. Domoslawski hatte nicht nur dargestellt, wie nah Kapuscinski der KP Polens stand, sondern auch, wie frei er mit den Fakten umgegangen ist. Gauß zeigt sich deshalb verwundert, dass Kapuscinskis so "präzise und illusionslose" Berichte aus dem Alltag der reglementierten polnischen Gesellschaft  nicht der Zensur zum Opfer fielen. Denn Ziel seiner Reisen durch das stalinistische Polen sei immer gewesen, unverfälschte Geschichten von meist gescheiterten Menschen am Rande der Gesellschaft zu erzählen. Von Parteinähe keine Spur, meint Gauß. Was den zweiten Punkt betrifft, die literarische Freiheit eines Reporters, hängt sich der Rezensent, selbst Verfasser literarischer Reportagen, ziemlich weit aus dem Fenster: Seiner Ansicht nach stehe einem Autor durchaus das Recht zu, Fakten umzustellen und neu zu ordnen. Gauß geht noch weiter, was hoffentlich nicht tief blicken lässt: "Selbst die Fiktion ist ihm nicht grundsätzlich verboten, sie muss nur durch die Absicht des Autors legitimiert sein, die Fakten, auf die er bezogen bleibt, mit ihrer Hilfe zu unterstützen."