04.10.2013. Marion Poschmann führt uns in die ostdeutsche Psychiatrie, Ian McEwan unterwandert mit dem MI5 den Literaturbetrieb, Christopher Clark beschreibt, wie Europa in den Ersten Weltkrieg schlafwandelte, Barbara Vinken liest Frauenbeine. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Oktobers.
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Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2013 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2013 und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturMarion PoschmannDie SonnenpositionRoman
Suhrkamp Verlag 2013, 337 Seiten, 19,95 Euro
Die "Sonnenposition" hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft: Und alle Kritiker, die den Roman bisher besprochen haben, sind damit mehr als einverstanden. Geradezu bezaubert berichten sie über die interessante Konstellation im Roman, den Arzt, den es in ein "Schloss" in Ostdeutschland verschlägt, in Wahrheit eine
psychiatrische Klinik. Und den Taumel, in den er, der sonst gern "Erlkönige" beobachtet, nach dem Tod eines Freundes gerät. Sandra Kegel in der
FAZ ist nicht nur fasziniert von dem
eigenwilligen Humor der Autorin, sondern bewundert auch das "metaphernreiche" Sprachspiel und die feinsinnig verwebten romantischen Motive, die diesen Roman durchziehen. Neben zahlreichen hervorbrechenden Familiengeheimnissen liest die Rezensentin hier eine philosophisch angereicherte Geschichte, die von der Gegenwart in einer
ostdeutschen Psychiatrie in die Vergangenheit einer bundesrepublikanischen Kindheit reicht.
Ian McEwanHonigRoman
Diogenes Verlag 2013, 448 Seiten, 22,90 Euro
Nach seinen weltpolitisch ausgreifenden Romanen
"Saturday" und
"Solar" hat sich Ian McEwan in seinem neuen Roman "Honig" wieder auf ein
britisches Sujet verlegt, und die RezensentInnen danken es ihm mit vergnügten Kritiken. "Honig" erzählt von einer jungen Frau im
Dienste des MI 5, die einen
jungen Literaten für die Sache der Freiheit gewinnen soll. Es ist das Jahr 1972, zu Hochzeit des Kalten Krieges; das graue England droht nicht nur vom Rest der westlichen Welt abgehängt zu werden, sondern selbst von der DDR und braucht dringend eine ideologisch überzeugende Erzählung. Doch auch wenn man sich das Setting ruhig wie in einem Roman von John le Carré vorstellen darf, warnen die Rezensenten davor, "Honig" als Agententhriller zu lesen. Mehr als um die Geheimdienste geht es in dem Roman um die
Subversion des Literaturbetriebs, um Verführung und die Souveränität des Erzählens, betont Johan Schloemann in der
SZ und nennt den Roman "beklemmend", aber auch "unterhaltsam, lustig, clever, erregend, fesselnd". In der
FR lobt Sylvia Staude "Honig" als raffiniert, komisch und einfühlsam.
Terezia MoraDas UngeheuerRoman
Luchterhand Literaturverlag 2013, 688 Seiten, 22,99 Euro
Auch Terezia Mora steht mit ihrem neuen Roman "Das Ungeheuer", einer Fortsetzung von
"Der einzige Mann auf dem Kontinent" auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, und auch hier sind die Kritiker fast einhellig begeistert. Man muss allerdings
einiges aushalten. Ein Mann gerät vom Weg ab, weil seine geliebte Frau vom Weg abgeriet und sich wegen Depressionen umbrachte. Die Kritiker haben's trotzdem gerne gelesen, und zwar wegen Moras
literarischer Meisterschaft: Was das Buch für
NZZ-Kritiker Rainer Moritz so gegenwärtig macht, sind sein experimenteller Charakter und Moras Sprachgefühl. Wie die Autorin den
Text zweiteilt, um die Entfremdung, aber auch die Überschneidungen im Leben eines Paares kenntlich zu machen, wie sie die Register wechselt und den
Rhythmus variiert - all das scheint Moritz meisterhaft gelungen. Ähnlich Karl-Markus Gauß in der SZ, der sich besonders von Moras Kunstgriff, Darius' Erlebnisse und Floras Tagebucheinträge parallel nebeneinander zu setzen, beeindruckt zeigt. Allein Katharina Döbler in der
Zeit kam das ein bisschen trocken und lehrbuchhaft vor.
James SalterAlles, was istRoman
Berlin Verlag 2013, 368 Seiten, 22,99 Euro
Fünfunddreißig Jahre lang hat James Salter keinen Roman mehr geschrieben, nun legt er Achtundachtzigjährig "Alles, was ist" vor - und haut die RezensentInnen damit um. Salter erzählt von einem
Kampfpiloten, der nach seinen intensiven Jahren im Krieg in seinem zivilen Leben scheiternde Ehen und Lebensentwürfe,
innere Leere und Vergeblichkeit erfährt. In der
SZ ist Christopher Schmidt einfach überwältigt von Salters melancholisch abgetönter
Betörungsprosa, von einer Schreibkunst, die mal kraftvoll erotisch und dann wieder ganz zart hingetupft erzählt. "Schmerzlich schön" findet er diese Geschichte "morbider Männlichkeit". In der
Zeit sieht Ursula März in dem Roman eine Abrechnung mit der "Metaphysik des Krieges" und "ein Alterswerk, das seinesgleichen sucht". Für die
FAZ besuchte Patrick Bahners den Autor in den Hamptons und ließ sich von ihm erklären, warum
Schreiben schwerer ist als das Kampffliegen.
Andréa del FuegoGeschwister des WassersRoman
Carl Hanser Verlag 2013, 208 Seiten, 17,90 Euro
Viel Lob erntet die brasilianische Journalistin und Filmproduzentin
Andréa del Fuego für ihren Debütroman "Geschwister des Wassers" über die Kinder Julia, Nico und Antonio, die durch einen Blitzschlag zu Waisen werden und sich alleine durchs Leben schlagen müssen. Del Fuego versteht es meisterhaft, "
surrealen Erzählmomenten die Aura eines physikalischen Faktums" zu verleihen,
schwärmt Jürgen Berger in der
taz. Da liegt, zumal bei lateinamerikanischer Literatur, das Etikett des magischen Realismus nahe, doch sowohl Berger als auch Eberhard Geisler
in der NZZ und Michaela Metz in der
SZ betonen, dass es das nur annäherungsweise trifft: vielmehr handele es sich um eine besondere Sensibilität für
Dimensionen und Metamorphosen. Auch Maike Albath
zeigt sich im
Dradio verzaubert, wenn sie auch das Debüt "teils noch etwas ungelenk" findet.
Imre KerteszLetzte EinkehrTagebücher 2001-2009
Rowohlt Verlag 2013, 464 Seiten, 24,95 Euro
"Ich war ein
Holocaust-Clown", sagt Imre Kertesz in einem denkwürdigen
Zeit-
Interview mit Iris Radisch. Der Nobelpreis habe ihn vernichtet: "Ich wurde eine Aktiengesellschaft, eine Marke. Die Marke Kertész." Und er sagt, worum es ihm beim Schreiben ging: "Es ging nur darum,
die Sprache zu finden für den Totalitarismus, eine Sprache, die zeigt, wie man
eingemahlen wird in einen Mechanismus und wie der Mensch sich dadurch so sehr verändert, dass er sich und sein eigenes Leben nicht mehr wiedererkennt." Nun ist er nach Budapest zurückgekehrt und legt in Deutschland seine Tagebücher der Jahre 2001 bis 2009 vor, die von Lothar Müller in der
SZ bejubelt werden: Müller erlebt hier mit dem Autor die Jahre des
Alterns und des
körperlichen Verfalls, die zugleich die Jahre seines größten Ruhmes sind und den Abschied von Ungarn und den Neubeginn in seiner Wahlheimat Berlin markieren. Fasziniert folgt der Rezensent Kertész' Lese- und Schreiberfahrungen und erfährt wie das repräsentative Ich immer wieder am schreibenden Ich zerrt - bis der längst erfolgreiche Schriftsteller schließlich seufzt: "Ich bin nicht länger Holocaust-Clown".
SachbuchChristopher ClarkDie SchlafwandlerWie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
Deutsche Verlags-Anstalt 2013, 896 Seiten, 39,99 Euro
Christopher Clarks
gesamteuropäische Geschichte des Ersten Weltkriegs ist für den
FAZ-Rezensenten Andreas Kilb ganz klar das
Buch des Jahres. In der
Welt lobt Sven Felix Kellerhoff die "wechselnden, höchst ungewöhnlichen Perspektiven", aus denen der australische Historiker die
Vielschichtigkeit der Gründe für diesen Krieg herauspräpariert. Im
Deutschlandradio zeichnen Otto Langels (
hier) und Eberhard Straub (
hier) nach, wie laut Clark die europäischen Politiker in einen Krieg schlafwandelten, den keiner von ihnen die Kraft und den Mut hatte, als Option
ernsthaft auszuschließen. In der
SZ lobte der Historiker Gerd Krumeich die englische Originalausgabe vor einem Jahr als "insgesamt
eine Wucht", auch wenn ihm die Serben ein bisschen zu schlecht wegkommen. Sehr vorsichtig, nur ganz zart zustimmend verhalten sich die Rezensenten zu der Tatsache, dass Clark die anderen Großmächte (von Serbien ganz zu schweigen) für mindestens ebenso schuld am Krieg hält wie Deutschland. Einzig Volker Ullrich will in der
Zeit davon
nichts wissen. Er wirft Clark vor, seiner These
widersprechende Aussagen des deutschen Reichskanzlers Theobald Bethmann Hollweg einfach unter den Tisch fallen zu lassen.
Barbara VinkenAngezogenDas Geheimnis der Mode
Klett-Cotta Verlag 2013, 250 Seiten, 19,95 Euro
Die Münchner Romanistin Barbara Vinken ist für ihre Interventionen zu Mode und Geschlechterfragen bekannt. Jetzt hat sie mit "Angezogen" eine recht euphorische Geschichte der Mode geschrieben und erklärt, was es auf sich hat mit den neuen,
weit ausschreitenden Frauenbeinen, dem Körper der Moderne und der Französischen Revolution als modischer Zeitenwende: Der Bürger erwarb Macht und Vermögen, zog sich einen Anzug an und überließ die verspielte
Frivolität der Aristokratie den Frauen. Elisabeth Wagner hat das Buch mit großem Vergnügen gelesen und nennt die Autorin in der
taz "gelehrte und selbstbewusst". Dass es im
Dradio Kultur (
hier) und in der
Zeit-Literaturbeilage große Interviews mit Vinken gab, darf man wohl auch als Empfehlung werten, in der
Zeit etwa schwärmt Vinken sehr mitreißend vom Beharren auf der "Form im Angesicht der Vergänglichkeit" - und vom Comer See: "Die
alten Damen dort, sie sind so schön!"
Joachim RadkauTheodor HeussCarl Hanser Verlag 2013, 640 Seiten, 27,90 Euro
Papa Heuss hat sich als der gemütlichste aller Bundespräsidenten ins Gedächtnis geprägt, der mit
Strickjacke und Filzpantoffeln in seiner Bonner Villa Hammerschmidt residierte und das Land mit seinem sonnigen Gemüt aufheiterte. Ein großes Verdienst von
Joachim Radkaus Biografie sieht Stephan Schlak in der
Zeit denn auch darin, dass er dem Thema das Onkelhafte nimmt und dem Mann wieder die
Doppelbödigkeit gibt, die er verdient. Denn Heuss war ja nicht nur der "unverkrampfte" Liberale, der Ziehsohn von Friedrich Naumann und Max Weber, der später Hermann Hesse, Ernst Jünger und Carl Zuckmayer zu seinen Freunden zählte, sondern auch der Mann, der weder als Journalist noch als Politiker sonderlich reüssiert hatte: Um des lieben Parteifriedens willen hat er 1933 dem
Ermächtigungsgesetz zugestimmt und später in der gehobenen NS-Zeitschrift
Das Reich eine unauffällige Existenz geführt. "Aufregend findet Schlak das und einen starken Kontrast zu der bundesrepublikanischen Heldengeschichte, die Peter Merseburger erzählt. Erfrischend findet auch Rainer Blasius in der
FAZ diese Biografie, die Politik und Geistesgeschichte höchst lebendig verquicke. Im
SWR freute sich Rainer Volk, dass Radkau mit seinem Buch dem "banalen Heuss-Bild" ein Ende bereitet hat.
Mark MazowerDie Welt regierenEine Idee und ihre Geschichte
C.H. Beck Verlag 2013, 464 Seiten, 27,95
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Nach seinen Büchern zu Europa als dunklem Kontinent, zum Balkan und zum Nationalsozialismus hat der in New York lehrende Historiker Mark Mazower nun eine
Geschichte des Internationalismus vorgelegt. Doch immer wieder scheiterten die hochfliegende Versuche, die Welt zu ordnen, die Heilige Allianz ebenso wie der Völkerbund. In der
Zeit zeigt sich Elisabeth von Thadden sehr beeindruckt von diesem Buch: "Wann zuletzt hat ein Buch die politische Welt
ein wenig verstehbarer gemacht?", fragt sie, warnt aber zugleich moralische Puristen vor der Lektüre: Hier stünden Idealismus ganz dicht neben dem politischen Wahn und Tyrannei neben der humanistischen Intervention. Im
Deutschlandfunk findet Maximilian Steinbeis das Buch so spannend wie heikel, möchte aber Mazowers
pessimistische Sicht auf die Möglichkeit einer weltumspannenden Ordnung nicht teilen. Nur in der
taz kann Felix Ekardt dem Buch kaum etwas Gutes abgewinnen: Ihm war das alles bekannt.