07.06.2012. Atiq Rahimi erzählt von Schuld und Sühne in Kabul. Nina Bußmann stellt uns den suspendierten Physiklehrer Schramm vor. Mark Z. Danielewski durchquert in einem Roadmovie 200 Jahre amerikanische Geschichte. Marc Hansmann beschreibt die Geschichte des deutschen Schuldenstaats. Und der Wirtschaftspsychologe Daniel Kahneman schafft den rationalen homo oeconomicus ab. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juni.
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Büchern der Saison vom
Frühjahr 2012, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2012, den
Leseproben in
Vorgeblättert und der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag".
LiteraturAtiq RahimiVerflucht sei DostojewskiRoman
Ullstein Verlag 2012, 288 Seiten, 19,99 Euro
Von
Schuld und Sühne in Kabul erzählt der in Afghanistan geborene, seit 1984 in Frankreich lebende Schriftsteller Atiq Rahimi. Ein verarmter junger Mann tötet eine Wucherin, um seine Familie und seine Verlobte vor Hunger und Prostitution zu bewahren. Das Gewissen plagt ihn, doch als er sich stellt, wird ihm klar gemacht, dass unter den Talbian sich kein Mensch um den
Tod einer alten Frau schert. In der
FAZ ist Sabine Berking sehr beeindruckt von Rahimis philosophisch-psychologischem Bild eines "geschundenen, zerrissenen" Afghanistans. In der
SZ meint Matthias Waha, dass der Vergleich mit Dostojewski nicht zu gewinnen war, dennoch bescheinigt er Rahimi, etwas
ganz Eigenständiges von herausragender literarischer Qualität geschaffen zu haben.
Nina BußmannGroße FerienRoman
Suhrkamp Verlag 2012, 200 Seiten, 17,95 Euro
Einen Tag im Leben des
Physiklehrers Schramm beleuchtet Nina Bußmanns Debütroman "Große Ferien", einen Tag, der nicht mit Unterrichten, sondern mit Unkraut jäten zugebracht wird. Denn Schramm ist suspendiert, und bei der Gartenarbeit sinnt er den Umständen nach, die zu seiner Freistellung führten. Die Rezensenten zeigen sich beeindruckt von Bußmanns Fähigkeit, sich in die selbstquälerischen Gedankengänge eines
zurückgezogenen Sonderlings hineinzuversetzen - in der
taz beschreibt Ulrich Rüdenauer die Sprache dieses inneren Monologs als "autoaggressive Bernhard-Suada". Bei dieser
subjektiv-assoziativen Erzählweise bleibt naturgemäß vieles im Unklaren, wodurch das Grauen "wie das unaufhaltsam sich ausbreitende Unkraut" allmählich vom Leser Besitz ergreift, wie Lena Bopp in der
FAZ feststellt. Und wenn man am Ende das Gefühl haben sollte, nicht alles verstanden zu haben, dann macht das nichts, tröstet Hubert Winkels in der
Zeit, schließlich gehe es in "Große Ferien" um das Miss- und Nichtverstehen.
Andreas Martin WidmannDie GlücksparadeRoman
Rowohlt Verlag 2012, 218 Seiten, 16,95 Euro
In Andreas Martin Widmanns Romandebüt "Die Glücksparade" über den 15jährigen Simon, der mit seinen Eltern auf einen Campingplatz zieht, passiert nicht viel - das aber sehr unterhaltsam. Die Rezensenten sind sich einig, dass Widmann ein besonderes Gefühl für die
Suchbewegungen und Sehnsüchte des Heranwachsens habe, Nicole Henneberg fühlt sich gar in der
FAZ nicht nur beiläufig an
J. D. Salingers Holden Caulfield erinnert. Das liegt wohl an der gelassenen Melancholie, die auch Christoph Schröder in der
SZ höchst angetan hervorhebt. Und so ist es durchaus positiv gemeint, wenn Cathérine Wenk im Kulturmagazin
Titel schreibt, "Die Glücksparade" zeige, "dass das
Erwachsenwerden in unserer heutigen Zeit keinen Stoff mehr birgt für große, aufregende Geschichten".
Chimamanda Ngozi AdichieHeimsuchungenZwölf Erzählungen
S. Fischer Verlag 2012, 300 Seiten, 19,99 Euro
Die zwischen
Nigeria und den USA pendelnde
Autorin Chimamanda Ngozi Adichie beschreibt in diesem Erzählband Beziehungsgeflechte in der postkolonialen Welt. Die Ich-Erzählerinnen sind - wie die Autorin - oft
junge Frauen, die in zwei Welten leben. Es geht um Exil, um den Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Christen, um Reich und Arm und Mann und Frau, erklärt Marie-Sophie Adeoso in der
FR. In der
SZ hat Tim Neshitov vor allem beeindruckt, wie Adichie in einer deprimierenden Gegenwart (die
Folgen des Biafrakrieges sind noch nicht ausgestanden) nach dem Menschlichen sucht, das sie in verschiedenen Kulturen findet. Das Ergebnis sind "wunderschöne und außerordentlich gelassene" Erzählungen, gleichzeitig genuin afrikanisch und universell verständlich, so Walter von Rossum in der
Zeit.
Mark Z. DanielewskiOnly RevolutionsRoman
Klett-Cotta Verlag 2012, 360 Seiten, 24,95 Euro
Viele Autoren sagen, dass sie mit dem Internet nicht viel anfangen können -
Jonathan Franzen etwa zieht den Stecker, bevor er einen neuen Roman schreibt.
Mark Z. Danielewski dagegen hat seinen letzten Roman "Only Revolutions" mithilfe seiner Leser
über seine Internetadresse geschrieben und dann in eine höchst konzise Print-Form gebracht - von vorne und hinten und unten und oben zu lesen, ein
Road Movie, das vier Monate dauert und zweihundert Jahre Geschichte durchstreift. Den Internet-Aspekt haben die durchwegs begeisterten deutschen Kritiker übrigens gar nicht groß erwähnt. Sie schöpfen aus ihrem literarischen Reservoir: Jan Bender scheut sich in der
NZZ nicht, Homer, Dante oder Pound als Vergleichsgrößen zu ziteren. Dirk Pilz staunt in der
FR darüber,dass ein Roman zugleich so streng gegliedert und
so spielerisch sein kann. Robert Matthias Erdbeer gratuliert in der
taz auch den Übersetzern und dem Verlag für das schwierige Kunststück, das dieses Buch darstellt.
Janne TellerKommRoman
Carl Hanser Verlag 2012, 160 Seiten, 16,90 Euro
Nach zwei Aufsehen erregenden Jugendromanen legt die schwedische Schriftstellerin Janne Teller, ehemalige UN-Botschafterin und Konfliktberaterin der EU, ein Buch für Erwachsene vor. Einen spannenden Roman, ein beklemmendes Kammerspiel und eine philosophische Reflexion über die
Grenzen künstlerischer Freiheit, all das packt Teller in ihre Geschichte über einen Verleger, der feststellt, dass ein potentielles Bestseller-Manuskript die
unautorisierte Lebensgeschichte einer Autorin aus seinem Verlag erzählt. Damit hat sich Teller viel vorgenommen - etwas zuviel, wie Annett Scheffel in der
SZ und Johan Dehoust auf
Spiegel Online finden. In der
FAZ ist Sandra Kegel hingegen äußerst fasziniert, auch dank der "geschmeidigen" Übersetzung von Peter Urban-Halle. Barbara Weitzel hebt in der
taz hervor, dass Teller nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern literarische Texte als
Erkenntnisinstrumente nutzt.
SachbuchMarc HansmannVor dem dritten Staatsbankrott?Der deutsche Schuldenstaat in historischer und internationaler Perspektive
Oldenbourg Verlag 2012, 114 Seiten, 16,80 Euro
Marc Hansmanns Geschichte des
deutschen Schuldenstaates hat Gustav Seibt in der
SZ schlucken lassen. Wer will da noch auf Griechenland zeigen? Seibt bewundert Hansmanns nüchterne Beschreibung des deutschen Wegs vom Militär- zum Sozialstaat. Das Schuldenmachen geht inzwischen längst auf Kosten der
nächsten Generationen, lernt Seibt. Er fragt sich, ob man nicht die
Mehrwertsteuer an die Staatsverschuldung koppeln sollte, damit die Verschuldung für jeden erfahrbar wird. Ginge es uns denn ohne den Euro besser?
Thilo Sarrazin ist in seinem Buch
"Europa braucht den Euro nicht" dieser Ansicht. In der
FAZ wurde es gleich zwei mal besprochen: erst von
Peer Steinbrück, der Sarrazin vorwarf, den Euro lediglich unter finanzpolitischen Aspekten zu betrachten. Und dann vom
FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert, der Sarrazins Thesen als
streitbar, aber nicht unhaltbar bezeichnete.
Norbert MillerFonthill AbbeyDie dunkle Welt des William Beckford
Carl Hanser Verlag 2012, 320 Seiten, 21,90 Euro
Aus der allzu kurzen Leseprobe beim Hanser-Verlag: "Die Hoffnung,
ein Quantum Erdenschwere möchte genügen, um das irrlichternde Talent zum Ideal eines jungen Edelmanns herauszubilden, hatte sich rasch als Illusion erwiesen: bis zu seiner Volljährigkeit verstrich die Zeit in hektischen Versuchen der standesgerechten Fixierung eines allzu unsteten Temperaments." Der große Komparatist Norbert Miller bringt in dieser Saison zwei Bücher heraus, einen
Essayband mit Artikeln zu Defoe, W.H. Auden, zum Griechenstreit und anderem (
"Paradox und Wunderschachtel"), und diese vielleicht nur auf den ersten Blick spezialistisch wirkende Monografie über den Exzentriker
William Beckford, 320 Seiten immerhin, erschienen in Hansers schöner Essay-Reihe
Akzente. Aber es ist die Geschichte eines Exzentrikers, die einen ganz eigenen Blick auf das 18. Jahrhundert in Großbritannien zulässt. Miller stellt Beckfords groteske Architekturfantasien in eine Reihe mit den künstlichen Paradiesen Piranesis und Baudelaires. Rüdiger Görner hat sie in der
FAZ wärmstens empfohlen.
Jacques Ranciere Und das Kino geht weiter Schriften zum Film
August Verlag 2012, 224 Seiten, 14,80 Euro
"Und das Kino geht weiter" ist ein Buch für Einsteiger wie für Experten: Für Einsteiger, weil die Bandbreite von Jacques Rançières Texten für jeden Filmliebhaber etwas bereithält:
von Chaplin bis Kusturica, von Mizoguchi bis Kitano, von Buñuel bis Bela Tarr, von Debord bis zu den Dardennes reicht das behandelte Spektrum. Aber auch ausgewiesene Rançière-Spezialisten werden in diesem Band Neues finden, da die Herausgeber, Sulgi Lie und Julian Radlmaier von der Freien Universität Berlin, ausschließlich Texte ausgewählt haben, die noch nicht in Monografien oder Sammelbänden veröffentlicht wurden - nicht einmal in Frankreich. Zwei Aspekte streicht Bert Rebhandl in seiner begeisterten Rezension in der
FAZ heraus: Rançières besonderes Verständnis des Kinos als zwischen Repräsentation und Autonomie changierendes
Gesamtkunstwerk. Und die Darbietung eines eigenen Modells, das immer wieder die bekannten ästhetischen Dichotomien durchkreuzt, indem es den Leser auf die
kleinen Exaltationen im filmischen Realismus hinstößt.
Daniel KahnemanSchnelles Denken, langsames DenkenSiedler Verlag 2012, 640 Seiten, 26,99 Euro
Daniel Kahneman ist Wirtschaftspsychologe und diese Kombination führt zu einer logischen Folge: Er schafft den
rationalen homo oeconomicus ab. Auch in der Wirtschaft ist der Mensch nach Kahneman - Adam Smith und die gesamte Chicago-Schule mögen im Grabe rotieren - ein Bündel irrationaler Energien. Die Wirtschaftskrisen in den letzten Jahren haben es gezeigt, und da sie längst nicht ausgestanden sind, kann man zumindest auf Kahnemans Buch wetten. In den USA ist es jetzt schon ein Riesenerfolg. Deutschland muss noch aufwachen. Nur eine Besprechung in den vom Perlentaucher gelesenen Zeitungen bisher: Uwe Jean Heuser sieht mit diesem Buch in der
Zeit nicht nur unser Bild vom Markt ins Wanken gebracht, auch das Menschenbild wackelt gewaltig, wenn der Ökonom und Psychologe Daniel Kahnemann anhebt, unsere Rationalität in Frage zu stellen. Der manchmal großartige Wirtschaftsreporter
Michael Lewis hat Kahneman in der
Vanity Fair porträtiert. In der
New York Review of Book erhielt Kahneman die Ehre einer
Besprechung durch den exzentrischen Mathematiker
Freeman Dyson.
Philipp TheisohnLiterarisches EigentumZur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Essay
Alfred Kröner Verlag 2012, 137 Seiten, 11,90 Euro
Lange Zeit galten Themen wie
Urheberrecht und "geistiges Eigentum" als abseitig - auch unter Rechtsanwälten war das Urheberrecht nicht gerade das renommierteste aller Rechtsgebiete. Das hat sich durch die jüngst Debatte geändert. Besonders der Aufstieg der
Piratenpartei zeigt an, dass es sich hier offenbar um eine zentrale aktuelle Debatte handelt. Allzu viele Bücher zum Thema werden bisher noch nicht herausgebracht: Um so verdienstvoller, dass der in Zürich lehrende Literaturwissenschaflter Philipp Theisohn einen kurzen Einführungsband zum Thema herausgibt. Jens Bisky in der
SZ war sehr von diesem Band eingenommen und empfiehlt den Piraten Theisohn als Experten für das Thema anzuheuern. Die USA sind in diese Debatte viel weiter (und tiefer) eingedrungen. Hier seien vor allem zwei Bücher empfohlen:
Lewis Hydes Studie "Common as Air" () und
James Boyles Buch "The Public domain" ()
Eva MoserOtl AicherGestalter
Hatje Cantz Verlag 2012, 456 Seiten, 38 Euro
Otl Aicher (1922 -1991) war einer der einflussreichsten
Grafikdesigner der Nachkriegszeit. Er prägte das Erscheinungsbild von Lufthansa, ZDF, ERCO Leuchten, Dresdner Bank, Sparkasse, Bulthaup Küchen, der Olympischen Spiele in München 1972 - um nur einige zu nennen. Eva Moser hat jetzt eine Biografie dieses Gestalters geschrieben, die den Rezensenten in
SZ und
FAZ angenehm auffiel, weil sie zwar die Leistung Aichers würdigt, aber auch manche Selbstauskunft "kräftig
gegen den Strich gebürstet" hat, wie
SZ-Rezensent Wolfgang Jean Stock anerkennend bemerkt. Moser arbeitet seiner Ansicht nach vorzüglich die
widersprüchliche Persönlichkeit Aichers heraus. Druckfehler trüben allerdings das Vergnügen des Rezensenten ein wenig.