9punkt - Die Debattenrundschau

Scherbengericht nannte sich das

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2014. Edward Snowden hat sich in einem Chat gerechtfertigt: Eine Demokratie kann sich nicht verteidigen, indem sie ein Großmütterchen in Missouri belauscht. Snowden verrät Demokratie nicht, sondern stärkt sie, meint Techcrunch. In der FAZ freut sich Constanze Kurz, dass der Europäische Gerichtshof die Überwachungspraktiken des britischen Geheimdienstes GCHQ überprüfen will. Die Demonstranten in der Ukraine halten die europäische Fahne hoch. Europa darf davor nicht die Augen verschließen, meint die SZ. In 3sat fürchtet Juri Andruchowytsch einen Bürgerkrieg. In Frankreich geht die Debatte um Dieudonné weiter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.01.2014 finden Sie hier

Europa

Die Ereignisse von Kiew betreffen Europa im Kern, meint Daniel Brössler im Leitartikel der SZ: "In der Kälte halten Menschen dort die europäische Fahne hoch. Sie werden geschlagen und nun auch beschossen. Diesen Anblick dürfen sich Politiker wie Bürger der EU nicht ersparen. So hart es klingt: Über die Zukunft Europas entscheiden nicht nur rote Zahlen, sondern auch das Blut im ukrainischen Schnee."

3sat-Kulturzeit hat Juri Andruchowytsch zu den Unruhen in der Ukraine interviewt, hier der Link zur Mediathek: "Das Land steht auf der Grenze zu einem Bürgerkrieg." In der FAZ stellt er der ukrainischen Regierung ein miserables Zeugnis aus: "Die Dimensionen gestohlener und rechtswidrig angeeigneter Güter übersteigen jegliche Vorstellungen von menschlicher Habsucht."

Aktuelle Fotos aus der Ukraine auf Twitter sehen Sie hier, unten ein Tweet aus Newsweek:
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Medien

Was als Empörung über mangelnde Gesprächskompetenz eines Moderators begann, entwickelt sich zu einer Hetzjagd, stellen die Zeitungen fest. "Was ist eigentlich das Ziel?", fragt Klaus Raab in der taz bang angesichts von über mittlerweile über 160.000 Unterzeichnern der Petition gegen Markus Lanz: "Dass man Leute, deren Fressen man nicht mehr sehen will, ohne größeren Aufwand entfernen lassen kann, so als fußballstadionfüllende Meute?" Auf Spiegel Online sieht Arno Frank in Markus Lanz den "Christian Wulff des Showgeschäfts", der bei allem, was er macht, die Öffentlichkeit gegen sich hat: "Wir haben doch schon das Fernsehen, das wir verdienen. Und es darf bezweifelt werden, dass es besser würde, wenn wir die Personalentscheidungen pseudodemokratisch auslagerten." Und auch David Hugendick hebt auf Zeit online hervor, dass nicht jede Mehrheitsentscheidung demokratisch ist: "Der aktuelle Vorgang erinnert an die Antike, in der man störende Bürger durch anonymen Mehrheitsentscheid davonjagen konnte. Scherbengericht nannte sich das."
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Überwachung

Constanze Kurz, die britischen Organisationen Big Brother Watch, Open Rights Group und der PEN haben letztes Jahr im September den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen, die Überwachungspraktiken des britischen Geheimdienstes GCHQ zu überprüfen, die ihrer Meinung nach die Privatsphäre nach Artikel 8 der Menschenrechtskonvention verletzen. Mit Erfolg, berichtet sie in der FAZ (online berichtet Michael Hanfeld): "Die Richter am EGMR haben die Brisanz des Anliegens nun anerkannt. Sie haben sich an die britische Regierung gewandt und um Stellungnahme gebeten. Sie betonen dabei die Dringlichkeit und priorisieren das Verfahren, weswegen der britischen Regierung nur eine kurze Frist eingeräumt wird, um die Praktiken des GCHQ und die Kontrollsysteme zu rechtfertigen."

Gestern Abend stellte sich Edward Snowden in einem Live Chat den Fragen der sogenannten Netzgemeinde (hier nachzulesen). Obwohl Barack Obama zuletzt die von Snowden angestoßene Debatte als nützlich bezeichnet hatte, hat ihr Auslöser in den USA derzeit "keine Chance auf einen fairen Prozess", weil das Anti-Spionage-Gesetz von 1917, unter dem er angeklagt ist, Handlungen im öffentlichen Interesse nicht vorsieht, berichtet Snowden frustriert. Spiegel Online ist in seiner Zusammenfassung der Fragestunde überrascht von Snowdens grundsätzlich positiver Einstellung zu Geheimdiensten und zitiert ihn mit den Worten: "Wenn wir gut genug sind, um in jedes Gerät auf dem Planeten einzubrechen, in das wir wollen (und dazu gehört das Handy von Angela Merkel, wenn man den Berichten glauben kann), dann gibt es keine Entschuldigung dafür, dass wir unsere Zeit damit verschwenden, die Verbindungsdaten von Großmüttern in Missouri zu sammeln."

Edward Snowden ist nicht ein Verräter, der den Westen schwächt und den man mangels Argumente als Person verhöhnt (wie etwa Sean Wilentz in New Republic, hier, und Nachbeter in Deutschland), er rührt statt dessen ans Beste der Demokratien: ihre Selbstkorrekturfähigkeit, meint Gregory Ferenstein von Techcrunch nach Snowdens Chat: "The intelligence community needs a lot more critics, especially ones who are specifically tasked with protecting civil liberties... Under any reasonable scenario of broader oversight, bulk collection of data, as we know it, will change. Since authorities will have to convince a lot more skeptics, the burden of proof will fall more on the NSA, and ultimately limit their reach."
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Gesellschaft

Dass Dieudonné auch die Hirne von Intellektuellen vernebelt, zeigt ein Artikel des französischen Anthropologen Jean-Loup Anselme in Le Monde. Ihn kümmert nicht der neue Antisemitismus, in dem sich Motive aus Rechtsextremismus und Islamismus verbinden, sondern er unterstellt Intellektuellen wie Pascal Bruckner (auf dessen Artikel er antwortet), dass es ihnen um eine rassistische Hierarchisierung gehe: Bruckner setze "anti-weißen Rassismus" mit "Antisemitismus" gleich, klagt er. Daraus folge logischerweise, dass Juden den "Weißen" und die "Anderen" - also Araber, Muslime, Schwarze - allesamt der entgegengesetzten Kategorie zugeschrieben würden. "In Wahrheit kommt in dieser Gleichsetzung von anti-weißem Rassismus und Antisemitismus eine implizite Hierarchisierung der Religionen und die konzedierte Vorrangstellung der jüdischen Religion zum Ausdruck. Denn sie wird, neben dem Christentum, in den Rang einer zivilisierten, 'europäischen' Religion erhoben, der gegenüber der Islam auf das Niveau einer ungehobelten Religion zurückgesetzt wird. Das unterstreicht auch das Bild einer französischen Gesellschaft, in der die jüdische Elite, vereint mit der christlichen oder laizistischen Elite, berechtigterweise 'Führungspositionen' einnimmt, im Gegensatz zu einer großen Anzahl von Arabern und schwarzen Muslimen, die den Plebs bilden."
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Geschichte

Die Deutschen waren nicht allein schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, aber sie hatten doch einen großen Anteil an dieser Schuld, meint Herfried Münkler, dessen Buch "Der Große Krieg - Die Welt 1914 bis 1918" vor kurzem erschienen ist, in einem zweiseitigen Interview mit der FAZ: "Das Problem ist, dass diese Leute alle nicht politisch zu denken gelernt haben - genau das, worüber sich Max Weber tagtäglich aufregt."

Nicht um die Frage der Schuld, sondern um die Nachwirkungen des Krieges geht es in einem Essay des Bochumer Historikers Lucian Hölscher in der SZ: "Bei den Siegermächten gab es über alles Leid hinweg im Sieg der Idee der liberalen Demokratien eine letzte Antwort auf die Frage, wofür die Opfer gut gewesen waren... In Deutschland dagegen versuchen wir vergeblich, über den Geschichtsbruch des Ersten Weltkriegs hinweg die Grundlagen des Fühlens und Denkens der Zeitgenossen, ihre Erfahrungen und Wertungen in uns wieder zu beleben."

Über ein Problem mit der Geschichte in der chinesischen Stadt Harbin berichtet Hoo Nam Seelmann in der NZZ. Es geht um ein neues kleines Museum, dass dem Andenken an den Koreaner Ahn Jung Gun gewidmet ist, der nahe dem Ort, wo das Museum steht, 1909 aus Protest gegen die Besatzung Koreas den japanischen Premier Ito erschossen hatte: "Nun kritisiert Japan die Eröffnung des Museums als einen Affront, und der Regierungssprecher bezeichnet Ahn als einen 'Terroristen', der zu Recht zum Tode verurteilt worden sei. Die koreanische Regierung ihrerseits kontert, indem sie Ito den 'Anführer einer brutalen Bande' nennt. Ein Tyrann sei ermordet worden, der nur Elend über Korea und Asien gebracht habe. Ohne eine gemeinsame differenzierende Sicht auf die Geschichte kann die Dichotomie 'Held oder Terrorist' niemals aufgelöst werden."
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