9punkt - Die Debattenrundschau

Postmortales Persönlichkeitsrecht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2014. In der Ukraine werden Menschen gefoltert, weil sie Symbole der EU tragen, schreibt Juri Andruchowytsch im Tagesspiegel. Richard Herzinger wendet sich in der Welt gegen Intellektuelle, die aus der Relativierung der deutschen Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg ein Argument gegen die EU machen wollen.In der ARD erklärt Edward Snowden, warum er sich Barack Obamas Justiz nicht stellt: weil sie den Souverän hintergeht. Die SZ erzählt, wie Oskar Schlemmers Erben das Urheberrecht aushebeln wollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2014 finden Sie hier

Europa

Der Tagesspiegel bringt Juri Andruchowytschs Offenen Brief zur Lage in der Ukraine, der schon seit einigen Tage in den europäischen Medien kursiert: "Dies ist die Revolution der Jugend. Der unerklärte Krieg der Macht wird vor allem gegen sie geführt. Abends, wenn es dunkel wird, bewegen sich unbekannte Gruppen von 'Menschen in Zivilkleidung' durch Kiew, die hauptsächlich junge Menschen angreifen, vor allem solche, die die Madina-Symbole, also die Symbole der EU tragen. Diese Menschen werden entführt, in den Wald gebracht, dort entkleidet und in der bitteren Kälte gefoltert. Seltsamerweise sind die Opfer am häufigsten junge Künstler - Schauspieler, Maler, Dichter. Man hat den Eindruck, als wären irgendwelche 'Todesschwadrone' ins Land eingefallen, deren Aufgabe es ist, das Beste, das es hat, zu vernichten."
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Stichwörter: Andruchowytsch, Juri, Ukraine

Überwachung

Ole Reißmann staunt bei Spiegel Online doch ein bisschen darüber, wie man bei der ARD die Hierarchien wahrt: "Was macht die ARD, wenn sie ein exklusives Interview mit Edward Snowden hat? Das erste Fernsehinterview überhaupt, seit der Whistleblower im Sommer nach Russland geflohen ist? Sie sendet Teile des sechsstündigen Gesprächs spät in der Nacht und lässt vorher Günther Jauch darüber diskutieren."

Das Snowden-Interview kann man in der ARD-Madiathek hier, bzw. unten eingebettet sehen. Hier die Mitschrift. Im ARD-Interview hat Snowden auch erklärt, warum er der Aufforderung Barack Obamas (und moralisch hochstehender Springer-Journalisten), sich den Gerichten zu stellen nicht folgt: "Was er allerdings nicht sagt, ist, dass es sich hierbei um Straftaten handelt, bei denen ich nicht vor einem Gericht gehört werden kann. Ich darf mich nicht vor einem öffentlichen Gericht verteidigen oder die Geschworenen davon überzeugen, dass ich in ihren Interessen gehandelt habe."

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Politik

Zwanzig Jahre nach Silvio Berlusconis Eintritt in die italienische Politik liegt das "Land in Trümmern, real, kulturell und moralisch", schreibt in der taz Paolo Flores d'Arcais, Chefredakteur von MicroMega: "Italien ist ein zurückgebliebenes und kraftloses Land, was bis auf die 'roten' Metallarbeiter von der FIOM, die noch gegen Fiat-Chef Marchionne kämpfen, auch alle Gewerkschaften betrifft. Die zu keiner Zeit ernsthaft bekämpfte Steuerhinterziehung ist von Berlusconi sogar noch moralisch gerechtfertigt worden. Die Reichen sind in den vergangenen 20 Jahren reicher, die Armen ärmer geworden - und die Mittelschicht starrt verängstigt auf den sinkenden Lebensstandard."
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Urheberrecht

Ärger um Oskar Schlemmer. Der Enkel Raman Schlemmer klagt gegen geplante Ausstellungen, obwohl in diesem Jahr seine geerbten Urheberrechte ablaufen, berichtet in der SZ Catrin Lorch: "Da das Urheberrecht ausgelaufen ist, argumentiert Schlemmers Anwalt nun mit dem 'postmortalen Persönlichkeitsrecht', einer Konstruktion, die vor einigen Jahrzehnten vom Bundesgerichtshof anerkannt wurde, unter anderem als es darum ging, Nolde-Fälschungen aus dem Verkehr zu ziehen. Der war damals noch keine dreißig Jahre tot - im Fall Schlemmer will man die bislang unvorstellbare achtzigjährige Frist zugebilligt bekommen. Deutsche Gerichte, so die Hoffnung, stärken derzeit häufig die Persönlichkeitsrechte."
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Geschichte

Entschieden wendet sich Richard Herzinger gegen einen Text Dominik Gepperts, Sönke Neitzels, Cora Stephans und Thomas Webers, der aus der Relativierung der These von der deutschen Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg ein Argument gegen die Europäische Union macht, die ihrer Meinung nach nun auf falschen Prämissen ruhe: "Auch und gerade wenn für den Ausbruch des ersten großen Kriegs das blinde Machtstreben verschiedener Akteure verantwortlich ist, unterstreicht dies doch umso mehr, welche Errungenschaft die heutigen, die nationalen Interessen ausgleichenden und koordinierenden supranationalen europäischen Institutionen darstellen."

In einem Artikel zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz macht Henryk Broder eine Aporie im Denken gerade der bemühten Vergangenheitsbewältiger aus: "Auschwitz steht auch für ein Missverständnis da, mit dem sich die 'Aufklärer' in eine argumentative Sackgasse manövriert haben. Wenn der Mord an den Juden ein 'singuläres Verbrechen' war, dann muss man sich um eine mögliche Wiederholung keine Sorgen machen."

Die Welt ist außerdem sehr aufgeregt über Heinrich Himmlers Privatkorrespondenz, die im größten Onlinedossier aller Zeiten präsentiert wird. Willi Winkler mokiert sich darüber in der SZ. Na, Hauptsache, die Briefe sind echt!
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Gesellschaft

In ihrer monatlichen Reportage stellt Gabriele Goettle den Statistiker Gerd Bosbach vor, der die Demografie-Debatte für reine Panikmache hält: "Nicht vergessen dürfen wir die ganz reale Tatsache, dass die Generation, die 2050 die 'vielen Alten' zu ernähren hat, sich heute, aufgrund politischer Versäumnisse, in einer schwierigen Lage befindet. Ausfallende Schulstunden, fehlende Lehrer, marode Schulgebäude, Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, dramatisch überfüllte Hochschulen, Zugangsbeschränkungen usf. Eine gute Bildung für Kinder und Jugendliche sind aber elementare Voraussetzungen zur Meisterung der Zukunft. Stattdessen verweisen Wirtschaft und Politik ständig auf die Demografie. Und sie bemerken gar nicht, wie grotesk angesichts dessen die Klage über zu wenig Kinder ist."

Außerdem unterhält sich Jan Feddersen mit Caroline Emcke über Homosexualität und Identität.
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Medien

Jetzt,wo Stefan Aust zu Springer gewechselt ist, hat sich die Stimmung zwischen den Instituten wohl vollends verdüstert, muss man konstatieren, wenn man turi2 heute liest: "PR-Gau: Der Springer-Verlag hat dem Spiegel exklusiven Zugang zu seinem Vorstandschef Mathias Döpfner gewährt - und dafür einen gnadenlosen Verriss auf sechs Seiten geerntet."
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Internet

Google kauft für 500 Millionen Dollar Deepmind, ein Start up, das endlich "Künstliche Intelligenz" schaffen will, berichtet Catherine Shu in Techcrunch. Deepmind wurde von dem ehemaligen Schach-Wunderkind Demis Hassabis, dem Skype-Gründer Jaan Tallin und dem Wissenschaftler Shane Legg gegründet. Google scheint sich damit noch mehr Richtung "Transhumanismus" zu bewegen. "Wenn die drei für Google arbeiten, werden sie auch mit Futorologen und Autor Ray Kurzweil kooperieren, der 2012 als 'Direcor of Engeneering' für lernende Maschinen und Srachentwicklung angeheuert wurde. Kurzweil sagte, dass er eine Suchmaschine bauen will, di eso avanciert ist, dass sie zum 'kybernetischen Freund' wird."

Jürgen Gottschlich berichtet in der taz von einem neuen Internet-Gesetz in der Türkei, nach dem Seiten ohne richterlichen Beschluss gesperrt werden dürften, wenn sie die Privatsphäre verletzen, diskriminierende oder beleidigende Inhalte verbreiten oder dem Schutz von Familie und Kindern abträglich sind.
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