9punkt - Die Debattenrundschau

Unstete Politikperformance

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2014. Das Folkwang Museum hat eine Balthus-Ausstellung mit Polaroids eines pubertierenden Mädchens abgesagt. Schadet nichts, Balthus ist eh schlechte Kunst, meint die Welt. Die Berliner Zeitung wittert dagegen Selbstzensur. In der taz verteidigt die Religionswissenschaftlerin Sarah el-Tantawi die Sehnsucht der Ägypter nach dem Militär. In der FAZ warnt der Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz vor einem digitalen Totalitarismus, möchte aber auch gerne technologischen Anschluss halten. Im Guardian protestieren mehr als 200 Schriftsteller gegen die Menschenrechtsverletzungen in Putins Russland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.02.2014 finden Sie hier

Gesellschaft

In den USA geht derweil die Debatte über Woody Allens angeblichen Missbrauch der damals siebenjährigen Dylan Farrow, Adoptivkind seiner damaligen Lebensgefährtin Mia Farrow, weiter. In der NZZ berichtet Andrea Köhler heute ausführlich (die SZ hat der Affäre heute eine Seite 3 gewidmet). Mia Farrow hatte den Missbrauchsvorwurf vor Jahren in einem Sorgerechtsstreit erhoben, Allen war dann allerdings von einem Gericht freigesprochen worden. Jetzt hat sich ein anderes Adoptivkind von Mia Farrow zu Wort gemeldet, Moses, der seinen Vater im People Magazine verteidigt: "Meine Mutter hat mir den Hass gegen meinen Vater eingehämmert, weil er die Familie auseinandergerissen und meine Schwester sexuell missbraucht habe', erklärt Moses, 36. 'Und ich hasste ihn ihretwegen jahrelang. Ich glaube jetzt, dass sie es ihm heimzahlen wollte, dass er sich in Soon-Yi verliebt hat." Soon-Yi ist ebenfalls eine Adoptivtochter Farrows.

Im Guardian präsentiert eine Reihe prominenter Schriftsteller, darunter Günter Grass, Salman Rushdie, Margaret Atwood und Jonathan Franzen einen offenen Brief, der vor Sotschi die Einschränkung der Menschenrechte in Russland anprangert: "Als Schriftsteller können wir nicht tatenlos zusehen, während unsere Journalisten- und Schriftstellerkollegen zum Stillschweigen gedrängt werden oder Verfolgung und oftmals drastische Bestrafung riskieren für die bloße Mitteilung ihrer Gedanken." Auch die FAZ druckt den offenen Brief ab. Der Guardian berichtet hier.

Die Debatten um Sterbehilfe und die Versuche, das menschliche Leben bestmöglich zu schützen, sind schön und gut, meint Peter Praschl in der Welt. Doch die Lektüre einer Erzählung wie "Alles ist gutgegangen" von Emmanuèle Bernheim befördert einen von der abstrakten Diskussion um Regularien dann doch wieder schnell auf den Boden der Tatsachen: Praschl erinnert sie daran, "dass einem am Ende keine Position und keine moralische Sicherheit hilft. Wäre Sterbehilfe noch so institutionalisiert, gesetzlich geregelt; gäbe es all die Schwierigkeiten nicht mehr, mit denen man es zu tun bekäme, sobald man gebeten würde, jemandem beim Sterben zu helfen (das Unwissen, die Unsicherheit darüber, ob man zum Kriminellen wird, die Einsamkeit) - man befände sich immer noch in der entsetzlichen Lage, eine Tat zu begehen, gegen die alles in einem revoltiert."

Außerdem: Von Bascha Mikas neuem Buch über den gesellschaftlichen Umgang mit alternden Frauen kriegt Barbara Möller in der Welt ziemlich schlechte Laune.
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Überwachung

Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, der im Mai 2014 im Namen der europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten für das Amt des Kommissionspräsidenten kandidiert, darf im Aufmacher des FAZ-Feuilletons vor einem dräuenden digitalen Totalitarismus von Google und Co warnen und sich zugleich ein bisschen von allem wünschen, was die Digitalisierung an Versprechungen bereithält. Er wünscht sich eine soziale Bewegung, die "ein liberales, ein demokratisches und ein soziales Staatsverständnis haben [muss]. Sie muss im Bereich der Datensammlung, -speicherung und -weitergabe rechtliche Pflöcke einschlagen, die klarstellen, dass die Privatheit eines jeden ein unveräußerliches Grundrecht ist, und einen etwaigen Missbrauch eindeutig sanktionieren. Sie muss überdies durch eine kluge Wirtschaftspolitik sicherstellen, dass wir in Europa technologischen Anschluss halten, damit wir aus der Abhängigkeit und Kontrolle der heutigen digitalen Großmächte befreit werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um Nationalstaaten oder globale Konzerne handelt." Statt Wahlkampfprosa hätte man lieber ein Interview gelesen, das ihm auf den Zahn fühlt. Trotz vollmundiger Ankündigungen in der FAZ und vor zwei Monaten in der taz hat sich Schulz laut Abgeordnetenwatch seit 2009 an keiner EU-Abstimmung beteiligt, in der Datenschutz ein Thema war.
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Medien

Die von SZ und NDR aufgedeckte Neuigkeit, dass auch Gerhard Schröder in seiner Amtszeit von der NSA bespitzelt wurde, ist so neu gar nicht, schreibt Steven Geyer in der Berliner Zeitung: Bereits im Herbst 2013 deckte dies bereits die BamS auf. Dies fiel freilich nicht dem Mutterblatt auf, sondern dem Netz: "Im Nachrichtendienst Twitter machen User schon am frühen Morgen darauf aufmerksam, dass die Topmeldung vieler Medien drei Monate alt ist. Mittags rudert die DPA zurück: 'Stimmt, Fakt ist nicht neu. Befeuert aber neu die Debatte.', antwortet DPA-Nachrichtenchef Froben Homburger ... Die BamS-Meldung im Herbst sei aber bei weitem nicht so detailliert und konkret gewesen."

In der Türkei hat das Parlament gestern Nacht ein Gesetz verabschiedet, das das Abschalten unliebsamer Webseiten erleichtert, berichtet im Perlentaucher Constanze Letsch. Befürworter loben es als Schutz der Bevölkerung, Gegner sprechen von Zensur: "Dr. Özgür Uçkan, Dozent für Kultur-und Medienwissenschaft an der Bilgi Universität Istanbul warnt, dass Internetzensur in der Türkei weit verbreitet ist und unliebsame Inhalte zunehmend kriminalisiert werden: 'Die Internetzensur in der Türkei ist jetzt schon enorm. Zehntausende Webseiten sind blockiert. Es ist eine Schande, was hier passiert. Weil soziale Medien nicht im gleichen Maße zensiert werden können, versucht die Regierung, diese zu kriminalisieren. Mehrere Leute wurden während der Geziaufstände im Sommer wegen ihrer Tweets verhaftet. Die Regierung machte klar: Du darfst das nicht schreiben, Du darfst das nicht tweeten, und wenn Du das trotzdem machst, bist Du ein Terrorist.'"

Eine Meldung in der SZ informiert uns, dass die FAZ nach dem Ausscheiden von Günther Nonnenmacher aus dem Herausgebergremium Ende Juni keinen Nachfolger berufen will. Grund: wenn die Redaktion zusammenrücken muss, sollen es auch die Herausgeber.
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Politik

Die Religionswissenschaftlerin Sarah el-Tantawi verteidigt in der taz die Sehnsucht der Ägypter nach Stabilität - auch wenn diese zu Lasten der Demokratie und zugunsten der Militärs ausfällt. Für den Übergang sei dies alles besser als eine Syrien vergleichbare Entwicklung, die sich unter Mursi abzuzeichnen begann. "Wer die Entwicklungen in Ägypten nur als Staatsstreich der Militärs liest, schürft nicht tief genug. ... [Es] muss gesehen werden, dass die Mehrheit der Ägypter wollte, dass die Militärs die Macht wieder übernehmen. Das heißt, sie müssen jetzt wieder mit der eisernen Faust leben und eben nicht mehr mit einer unberechenbaren Theokratie wie unter Mursi. Es handelt sich um eine fortlaufende Revolution, sie ist längst nicht abgeschlossen. "
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Stichwörter: Ägypten, Arabellion, Faust, Theokratie

Kulturpolitik

In der Zeit ist es für Uwe Wesel "vollkommen zweifelsfrei", dass Cor­ne­lius Gurlitt nach geltenden alliierten Gesetzen der Jahre 1947 bis 1949 rechtmäßiger Eigentümer seiner Bilder ist, deren Beschlagnahme rechtswidrig war und sie ihm zurückgegeben werden müssen. "Und jetzt? Statt der Bilder hat Gurlitt etwas, was er vorher nie hatte. Er hat einen Betreuer, der über ihn bestimmt. Damit will man in Bayern vielleicht den Versuch machen, die juristische Blamage einer Landesbehörde zu vertuschen."

Während FDP-Politiker nach der Affäre um den Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz den Rücktritt Klaus Wowereits fordern, erhält der Berliner Bürgermeister in der Welt Beistand von Ulf Poschardt - auch wenn sich die Schützenhilfe im Grunde schon wie ein politischer Nachruf liest, wenn Poschardt Wowereit als "großen Bürgermeister und einen modernen Sozialdemokraten" würdigt. "Wowereits Werk ist sein Leben. Das ist eine klassische Strategie der Moderne. Sie passt zu einer Stadt, die ihre jüngste Erfolgsgeschichte zunächst Techno, bildender Kunst und exzessiven Partys verdankt hat. Wowereits Amtsführung hat etwas von einer unsteten Politikperformance. Berlin als überdimensioniertes Bühnenbild wurde zum Varieté neudeutschen Selbstbewusstseins und Wowereit ihr launischer Dramaturg." Und jetzt noch die Erklärung, warum das "groß" ist.

Weiteres: Im Aufmacher der FAZ kann Dieter Bartetzko aus eigener Anschauung berichten, dass immer wieder archäologische Artefakte aus den chronologisch unterbesetzten Museen verschwinden. Karen Krüger ist - ebenfalls in der FAZ - entsetzt über Erdogans neues Internet-Gesetz, das "die fragile Demokratie in der Türkei noch weiter schwächen" werde. In der SZ begutachtet Martin Krumbholz das "Düsseldorfer Schauspielgraus".
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Weiteres

Aus der FAZ: Der Vorschlag des ehemaligen BGH-Richters Wolfgang Nešković, die Kontrolle der Geheimdienste zu reformieren, ist jetzt online. Ebenso Andrea Dieners Artikel über den neuen Kopierschutz von Adobe und Markus Bickels Text über die ungemütliche Situation von Journalisten in Ägypten.
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Stichwörter: Ägypten, Geheimdienste