9punkt - Die Debattenrundschau

Die Norm im Tierreich

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2014. Das EU-Parlament wird heute laut Spiegel Online gegen Asyl für Edward Snowden stimmen. Schuld sind die Sozialdemokraten. Ist es nun natürlich, einen Giraffenbullen an die Löwen zu verfüttern oder nicht? Die Welt widerspricht sich. In der SZ beschreibt Alex Capus nach dem Referendum die gespaltene Seele der Schweizer. Außerdem: ein neuer Stand in der Gurlitt-Affäre.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.02.2014 finden Sie hier

Überwachung

Entgegen dem großen Getöne von EU-Politikern wird das EU-Parlament heute nicht dafür votieren, Edward Snowden in Europa Schutz zu gewähren, berichtet Claus Hecking bei Spiegel Online. Grüne, Liberale und Linke werden zwar für einen entsprechenden Vorschlag stimmen. "Dagegen stehen die größte Fraktion, die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) mit den deutschen Unionsabgeordneten sowie die nationalkonservative ECR. Und die Sozialisten als zweitstärkste Kraft im Parlament sind gespalten. 'Ich sehe bei uns keine Mehrheit für den Schutzantrag', sagt die SPD-Innenexpertin Birgit Sippel Spiegel Online. 'Aber wenn wir nicht geschlossen dafür stimmen, reicht es nicht.'" Auch Kilian Froitzhuber berichtet in Netzpolitik zum Thema.

Gestern war in den USA der große Protesttag gegen die NSA ausgerufen, berichtet Alex Wilhelm in Techcrunch. Bald 70.000 Anrufe in Abgeordnetenbüros und 140.000 Mails hat das Blog registriert. Es geht auch um den USA Freedom Act, der die Befugnisse von Gehimddiensten drastisch einchränken würde. "Die heutige Mobilisierung erinnert an die Stop-Online-Piracy-Act-(SOPA)-Proteste vor zwei Jahren, bei denen Websites ihre Seiten schwärzten, um in diesem Fall gegen ein Gesetz zu protestieren. Das Gesetz wurde zurückgezogen. Wie Techcrunch schon bemerkte, halten sich die Konzerne in ihrem Protest anders als das Publikum eher zurück."
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Ideen

In der taz bemerkt Christian Werthschulte in seinem Nachruf auf den britschen Theoretiker der Hybridität und Mitbegründer der Cultural Studies Stuart Hall: "Vielleicht ist dies die große Qualität von Stuart Hall: Er wollte sein Denken nicht in dem Spiel um Status und akademisches Kapital aufreiben. Vermutlich wird er auch deshalb in Deutschland von der Kulturwissenschaft weitgehend ignoriert. Das eine 'große' Buch hat Stuart Hall niemals geschrieben - im Gegenteil. Seine prägnantesten Werke sind Essays wie 'Enkodieren/Dekodieren'."
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Stichwörter: Hall, Stuart, Hybridität

Gesellschaft

Der Komponist Jüri Reinvere, im sowjetischen Estland aufgewachsen und schwul, ist mit westlichen Protesten gegen die russische Schwulengesetze nicht einverstanden - sie sind ihm zu aggressiv. Im Aufmacher des FAZ-Feuilleton schreibt er: "Was die Rechte der Homosexuellen in Russland betrifft, so könnte man wirksam helfen. Das braucht jedoch Zeit, Geduld und ein ganz anderes Vorgehen als das, womit sich die Homosexuellen im Westen emanzipierten... Als Erstes sollte man lernen, über Sexualität zu reden. Vielleicht lernen die Menschen dann, langsam, auch Homosexualität von Pädophilie zu unterscheiden. Schon ein Anfang wäre gut, aber nicht einmal der ist gemacht."

Die Tötung eines Giraffenbullen im Kopenhagener Zoo und seine öffentliche Verfütterung an die Löwen, lassen sich jedenfalls nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass es in der Natur nun mal so zugehe, meint Alan Posener in der Welt: "Was hat denn ein Zoo mit den Realitäten des Lebens zu tun? Wo herrscht denn im Zoo das Darwinsche Prinzip der natürlichen Auslese?" Eckhard Fuhr meint hingegen im selben Blatt (aber an anderer Stelle): "Viele halten es für besonders grausam, dass die Giraffe Marius so jung sterben musste. Aber der frühe Tod ist die Norm im Tierreich."



Dieses zum Tisch umfunktionierte ausgestopfte Lamm dürfte ebenfalls nicht nach dem Geschmack der Tierfeunde sein. Es stammt aus einer Möbelkollektion, die auf Salvador Dalis Gemälden basiert, berichtet das Designblog Dezeen.
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn von einem weiteren Fund aus dem Erbe des Nazi-Kunstsammlers Gurlitt: In dem Salzburger Haus von Cornelius Gurlitt wurden sechzig Gemälde gefunden, darunter Arbeiten von Monet, Renoir und Picasso: "Es lag nahe, dass es andere Depots geben müsste, in denen Gemälde und auch Skulpturen lagern, da die Sammlung des Nazi-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt sehr viel größere Bestände umfasst als jene leicht lagerbaren Papierarbeiten, die der Sohn in den eigenen vier Wänden hortete. Sonderbarerweise geriet das österreichische Domizil, in dem Cornelius Gurlitt jahrelang gelebt hatte, bald schon wieder aus dem Blick."

In der SZ beleuchten Catrin Lorch, Ira Mazzoni und Kia Vahland die Hintergründe und fragen, wieso Gurlitt eigentlich davon ausgeht, die Bilder gehörten ihm: "Er forschte nicht nach den jüdischen Vorbesitzern, denen möglicherweise Hunderte der Werke gehörten, bevor sie diese unter dem Druck der Verfolgung abgeben mussten. Er fragte nicht, was sein Vater im Auftrag des Regimes unter welchen Bedingungen in den besetzten Gebieten, besonders in Frankreich, erstanden hatte. Und er interessierte sich nicht dafür, aus welchen staatlichen Museen die Nazis die vielen Hunderte Grafiken und andere Werke der Klassischen Moderne geraubt hatten, die sich auch in dem Schwabinger Bilderkonvolut befinden."
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Europa

In der SZ erkennt der Schweizer Schriftsteller Alex Capus nach dem Referendum zwei Gemütslagen in der Schweiz: "Scham und Empörung in den Städten, Triumph und trotzige Genugtuung in den Dörfern." Denn die Zweiteilung des Landes führe nicht an den Sprachgrenzen entlang, sondern zwischen den prosperierenden Städten und dem abgehängten Land: "Materiell geht es den Menschen auf dem Land fast ebenso gut wie den Städtern. Die medizinische Versorgung und die Schulen sind hervorragend, die Subventionen aus den Städten fließen, auf absehbare Zeit wird bis ins hinterste Alpental kein Mensch Hunger leiden müssen. Aber kulturell und sozial sind die Landleute die großen Verlierer. Ihre Existenzform hat sich überlebt."

Weiteres: In der Welt hält Alan Posener fest: "Das Votum der Schweizer war kein Stinkefinger gegen die EU, sondern ein Stinkefinger gegen den globalen Kapitalismus, gegen offene Märkte und die Zumutungen einer kosmopolitischen Welt." Jürgen Kaube sieht in der FAZ die Schweiz mit ihrem Referendum sogar wieder enger an Europa gerückt und eines unter Beweis gestellt: ein "liberalkonservativsozialistisches und direkt-repräsentatives Demogagieverständnis".
Archiv: Europa
Stichwörter: Capus, Alex, Einwanderung