9punkt - Die Debattenrundschau

Extra Schneeberge

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2014. In BHLs Blog La Règle du Jeu appellieren litauische Autoren an ihre europäischen Kollegen, keinen Krieg zwischen der Ukraine und Russland hinzunehmen. Netzwertig stellt das niederländische Itunes für Zeitungen Blendle vor, in dem ein Zeitungsartikel zwischen 20 und 80 Cent kostet. Die taz wundert sich, dass der Spiegel sein Sturmgeschütz der Demokratie im Falle Heideggers im Schrank ließ. Die NZZ porträtiert New Yorks neuen Bürgermeister Bill de Blasio. Die FAZ fragt, ob sich Europa gegenüber den Internetkonzernen bewähren wird. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2014 finden Sie hier

Europa

BHLs Blog La Règle du jeu publiziert einen Appell litauischer Autoren an ihre europäischen Kollegen, "die wir bitten, Einluss auf die Politiker ihres Landes zu nehmen und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit kein militärischer Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ausbricht und damit die russischen Verantwortlichen sich an den Verhandlungstisch setzen. Im Namen des internationalen Rechts und geltender Abkommen zwischen Staaten ist es nicht hinzunehmen, das die Unabhängigkeit eines souveränen Staates verletzt wird."
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Politik

Andrea Köhler porträtiert New Yorks neuen Bürgermeister Bill de Blasio, der als einstiger Politaktivist und Sandinist einen deutlich anderen Wind in die Stadt bringt als sein Vorgänger, der millionenschwere Geschäftsmann Michael Bloomberg: "Als er in Jon Stewarts satirischer 'Saturday Night Show' mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, er habe extra Schneeberge an der reichen Upper East Side anhäufen lassen, um der dort ansässigen Elite einmal zu zeigen, dass es für sie keine Sonderbehandlung gebe, parierte de Blasio mit einem Geständnis: Für den Sommer sei in nämlicher Nachbarschaft schon eine Heuschreckenplage geplant."
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Medien

Nun kommt es also doch, das Itunes für Medien, gegen das sich Zeitungen in Deutschland bislang sträuben - also eine medienübergreifende Plattform, an der man einzelne Zeitungsartikel kaufen kann. Martin Weigert nimmt das niederländische Start Up Blendle für Netzwertig unter die Lupe: "Anwender bezahlen bei Blendle pro Artikel. Die Preise variieren zwischen 0,20 Euro für kürzere Artikel und 0,80 Euro für 'Longform'-Inhalte. Um Transaktionsaufwand und mentale Kosten zu minimieren, setzt das Duo auf Prepaid-Guthaben, welches von Usern sukzessive über Ein-Klick-Käufe von Texten aufgebraucht wird. Jeder neue User erhält 2,50 Euro Startguthaben geschenkt. Der Clou: Blendle räumt Usern die Freiheit ein, die Gebühr für einen Artikel zurückzuverlangen, wenn dieser ihrer Ansicht nach seinen Preis nicht wert war."

Im taz-Interview mit René Martens spricht Lutz Hachmeister über sein Buch "Heideggers Testament", in der er die Geschichte des berühmten Spiegel-Gesprächs zwischen Rudolf Augstein und dem Philosophen erzählt: "Heidegger hatte die totale Kontrolle über das Interview, das war die Geschäftsgrundlage. Seine wichtigste Bedingung war, die Publikation bis zu seinem Tod zu "sekretieren", wie er es genannt hat. Wenn man im Archiv nachschaut, was der Spiegel während der monatelangen Vorbereitung des Gesprächs recherchiert hat, fällt auf, dass Augstein und Wolff mehr wussten, als sie im Interview zu erkennen gegeben haben. Wahrscheinlich haben sie aus Angst, dass Heidegger das Interview abbricht, bestimmte Fragen nicht gestellt."

Stefan Niggemeier regt sich darüber auf, dass Zeit Online einen Journalisten nicht mehr für sich schreiben lassen will, der für die Kreml-Beilage der SZ, Russland Heute, arbeitet, der aber auch schon in der FAS Pussy Riot mit der RAF verglich.

Im Tagesspiegel meldet Sonja Alvarez, dass taz-Sportredakteur Andreas Rüttenauer zweiter Chef neben Ines Pohl werden soll.
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Gesellschaft

Ralf Bönt gehörte als Wessi, der nach Prenzlauer Berg zog, zur ersten Generation der Gentrifzierer - damals musste man noch heroisch sein, um in den verschimmelnden Wohnungen einzuziehen - nun ist es ihm aber auch zu viel, wie er in der Welt beschreibt: "Am Helmholtzplatz verbieten amerikanische Mütter ihren für tausend Euro eingekleideten sechsjährigen Kindern in den Sand zu laufen, und die Zuziehenden zahlen analphabetische Preise für die Proletarierwohnungen."
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Überwachung

Senatorin Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Senate intelligence Committee, galt bisher immer als treue Verteidigerin der Geheimdienste. Nun hat sie spektakulär mit der CIA gebrochen, und sie der Einschüchterungsversuche gegen über Politikern beschuldigt, berichtet die New York Times: "Describing what she called a 'defining moment' for the oversight of American spy agencies, Ms. Feinstein said the C.I.A. had removed documents from computers used by Senate Intelligence Committee staff members working on a report about the agency's detention program, searched the computers after the committee completed its report and referred a criminal case to the Justice Department in an attempt to thwart their investigation." Großartig Feinsteins Erklärung zu der Sache, die die NYTimes per Video eingebunden hat.

Im Guardian ruft Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Web, dazu auf, eine Magna Carta für das Internet zu entwerfen, die es vor den immer schamloseren Eingriffen von Staat und Unternehmen schützt: "Genau 25 Jahre, nachdem er seine ersten Vorschläge für ein weltweites Netz zu Papier brachte, erklärte der Informatiker: 'Wir brauchen eine globale Verfassung - eine Erklärung der Menschenrechte.' Berners-Lee Plan einer Magna Carta ist Teil der Initiative 'the web we want', die alle Menschen dazu aufruft, in allen Ländern eine Erklärung digitaler Menschenrechte zu verfassen - einen Katalog von Grundsätzen, die seiner Hoffnung nach von öffentlichen Institutionen, Regierungsvertretern und Unternehmen unterstützt wird."

Drei FAZ-Reporter haben sich nach Brüssel begeben, wo heute über die Datenschutz-Grundverordnung abgestimmt wird. Parlament und Kommission sind auf gutem Wege, aber es stellt sich heraus, dass die deutsche Regierung in Gestalt des Beamten Rainer Stentzel zu den größten Bremsern gehört. Vieles hängt von der Abstimmung ab, meinen die Berichterstatter, die glauben, dass nur die EU den Datenhunger der Internetkonzerne bremsen könne: "Im Grunde geht es um einen Paradigmenwechsel, bei dem aber auch Deutschland wenig Erfahrung hat. In Wirklichkeit ist die Bundesregierung selbst überrumpelt von dem atemberaubenden Tempo, in dem die großen Netzunternehmen Daten abschöpfen."
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Geschichte

Jürg Altwegg liest für die FAZ den Essay "Le mal napoléonien" des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Lionel Jospin, der mit dem Bonapartismus abrechnet, dem am gründlichsten verdrängten Zug der französischen Mentalität: "Die Ideen und Ideale der Revolution wurden von Napoleon nicht in die Welt hinausgetragen, sondern pervertiert. Ihre glühenden Anhänger - Jospin zitiert Beethoven und Fichte - wurden zu Gegnern." Auch den in Frankreich grassierenden Linkspopulismus (von Le Pen ganz zu schweigen) stellt Jospin in die bonapartistische Tradition. Hier die Kritik des Figaro zu Jospins Buch, und hier Alain Duhamel in Libération.
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