9punkt - Die Debattenrundschau

Ein potenziell bedeutender Informant

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2014. Voilà, die Krim ist annektiert. Europa lässt genau jene Nation im Stich, die sich gerade mutig zu seinen Werten bekannte, kommentiert Richard Herzinger. In der taz schreibt eine in Simferopol geborene junge Ukrainerin einen Abschiedsbrief an die Krim. Die FAS druckt ein Gedicht Hassan Yahyas über den Majdan. Die FAZ fürchtet sich vor dem kommenden intelligenten Haus. Medienblogs schwirren vor Gerüchten über die kommende Streaming-Revolution in Europa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.03.2014 finden Sie hier

Europa

Voilà, die Krim ist annektiert. Geradezu verzweifelt kommentiert Richard Herzinger in seinem Blog: "Ab jetzt steht fest, dass sich gewaltsame Annexionspolitik in Europa wieder lohnt. Und dass Europa mit der Ukraine eine Nation im Stich lässt, die sich durch eine demokratische Erhebung soeben mit größtem Mut einer kleptokratischen Tyrannei entledigt und zu eben jenen Werten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekannt hat, die Westeuropa offenbar nicht mehr zu verteidigen willens und in der Lage scheint."

Im Gespräch mit Bernhard Clasen (taz) bedauert der ukrainische Soziologe Volodimyr Ischtschenko die unbedeutende Rolle der Linken in der Ukraine und äußert Skepsis an der neuen Regierung des Landes: "Vier Minister und der Vizepremier sowie der Generalstaatsanwalt sind von der rechtsradikalen und xenophoben 'Swoboda'-Partei. An die Interessen der Arbeiterklasse denkt dort niemand. Zwei Oligarchen wurden jetzt zu Gouverneuren ernannt. Von diesen Leuten erwarte ich keine transparenten Strukturen. Sie werden den internationalen Konzernen die Türen der Ukraine ganz weit öffnen. Und auch in Zukunft wird so ein großer Teil des ukrainischen Kapitals auf irgendwelchen Offshore-Unternehmen geparkt, wofür dann natürlich auch keine Steuern bezahlt werden."

Ebenfalls in der taz schreibt eine in Simferopol geborene junge Ukrainerin unter dem Pseudonym Ana Gordijenko einen emotionalen Abschiedsbrief an die Krim, die sie wegen der angespannten Lage schweren Herzens verlassen musste: "Ich ging durch die Straße, als eine Frau plötzlich schrie und sich auf mich stürzte. Sie beschimpfte mich als 'Banderowza', als eine Anhängerin des radikalen Nationalistenführers Stepan Bandera aus der Westukraine. Die Propaganda der Kreml-Medien trichterte den Menschen auf der Krim ein, dass ukrainische Patrioten allesamt Faschisten sind. Wenn jemand auf der Straße Ukrainisch spricht, glauben sie, dass die Eroberer schon auf der Krim wären. Aber wie soll ich leben, wenn Herz und Seele nach der ukrainischen Sprache verlangen?"

Womöglich ist die Krim nur der Anfang von Putins Expansionsstreben, befürchtet Christoph von Marschall im Tagesspiegel: "Kennt er ein Halten beim Anschluss verlorener Sowjetgebiete an sein Großrussland? Wenn Transnistrien, Moldawien, Weißrussland folgen, würde die russische Armee Nato-Soldaten in Rumänien und den baltischen Staaten gegenüberstehen - eine Zuspitzung, wie am Berliner Checkpoint Charlie 1961 und bei der Kubakrise 1963."

Begeistert berichtet Volker Weidermann in der Sonntags-FAZ vom Auftritt des Dichters Yahya Hassan in Leipzig (der Perlentaucher druckte letzte Woche einige Gedichte von ihm vorab). Hassan war vor kurzem in der Ukraine und hat für Politiken ein Gedicht mitgebracht, das die FAS übersetzt, ein Auszug:

"Das Volk drängte sich in den Vordergrund
Die Autorität war außer sich
Der Europaredakteur der Zeitung Politiken
Saß mit schusssicherer Weste in seinem Fünfsternehotel.
(…)"
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Überwachung

In New York entstehen die "Hudson Yards", Hochhäuser, die einen halben Kilometer hoch sind, voller Wohnungen für reiche Einwohner der Stadt und voll gestopft mit Elektronik, die natürlich nur zum Besten der Bewohner sein soll. Niklas Maak ist in der FAZ dennoch skeptisch: "Auf dem Weg zum gläsernen Bürger, über den kommerzielle Anbieter so viele Informationen besitzen, dass sie seine Wünsche und sein Verhalten steuern können, ist die Wohnung mit den Bewegungsprofilen, die technisch problemlos erstellt werden könnten, noch mehr als das Auto ein potenziell bedeutender Informant."
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Medien

Die Medienblogs wimmeln vor Gerüchten über die bevorstehende Streaming-Revolution in Europa: "Amazon's TV streaming box to ship with Netflix and Hulu Plus apps", meldet Gigaom. Das Medienblog Curved fragt: "Landet Google Chromecast nächste Woche in Deutschland?" ("Google Chromecast übermittelt Video-Streaming-Inhalte kabellos an TV-Bildschirme.") "Netflix and Amazon's Lovefilm grew 120 percent in the U.K. last year", meldet wiederum Gigaom mit Bezug auf einen Artikel des Guardian.
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Gesellschaft

In der NZZ schreibt Gabriele Detterer eine lesenswerte Geschichte des städtischen Gartenbaus vom Schreberarten bis zum Urban Gardening. Im Zuge der Selfmade-Kultur ist der Gedanke des Lebensmittelanbaus zur Selbstversorgung in den letzten Jahren wieder populär geworden, so Detterer, wobei sich das Urban Gardening, etwa in den Berliner Prinzessinnengärten, erheblich von der biederen Vereinsmeierei der Schreberkultur unterscheidet: "Gemüsesetzlinge und Heilkräuter und Blumen werden in zu Hochbeeten gestapelten Kisten gepflanzt. Somit könnte man dem Kisten-Garten ein 'Take away'-Schild umhängen... Die hier sichtbar werdende Auflösung der Vorstellung von Nutzgärten als mit dem Boden verwachsenen Einheiten spiegelt aber auch das trendige 'Sharing' von Netz-Gemeinschaften wider. Bekanntlich legen sich Menschen seit alters Gärten an, nicht nur nach ihren Bedürfnissen, sondern auch nach ihrem Bild. So gesehen entsprechen temporäre, nomadische Gemeinschaftsgärten der Flexibilität des 'homo migrans digitalis'."
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Stichwörter: Sharing