9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2014. Die taz weist auf zwölf Seiten nach: Deutschland war doch schuld am Ersten Weltkrieg, und Christopher Clark hat unrecht. Das Berliner Ebook-Startup Readmill wird offenbar an die Dropbox verkauft. Netzwertig sieht das nicht unbedingt als Erfolg. Nach Twitter sperrt Erdogan auch Tor und Youtube, melden Netzpolitik und die SZ. Die Wende im Fall Gurlitt wird begrüßt. Neu: Frank Schirrmacher rät zu Mäßigung im Journalismus. Und unser wirtschaftlicher Erfolg ist gesichert: Wir kaufen uns einfach einen Seite 3-Artikel im Handelsblatt - dann wird's schon flutschen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2014 finden Sie hier

Geschichte

Die taz bringt ein zwölfseitiges Dossier zum Ersten Weltkrieg: Der Historiker Gerd Krumeich erhebt massive Einwände gegen Christopher Clarks Buch über den Ersten Weltkrieg "Die Schlafwandler". Seinen Erfolg erklärt sich Krumeich mit der Sehnsucht nach einer heileren Geschichte ("Es ist ja auch auf Dauer nicht aushaltbar, dass immer nur wir eine schreckliche, zerstörerische Vergangenheit gehabt haben sollen.") Aber die hsitorische Entlastung gilt nicht: "Nein, Deutschland will nicht unbedingt Krieg führen, um Weltmacht zu werden, wie Fritz Fischer behauptete. Aber es will im Juli 1914 testen, ob Russland tatsächlich bereit ist, für Serbien Krieg zu führen. Und wenn es das tut, dann gilt für die Deutschen: Lieber jetzt den Krieg mit Russland, als später. Ab 1916, so glaubt man, wird Russland militärisch nicht mehr zu schlagen sein."

Außerdem geht es unter anderem um die Frage der Emanzipation, die britische Erinnerungspolitik und den Völkernmord an den Armeniern. Im Interview mit Stefan Reinecke erklärt der Kulturwissenschaftler Peter Berz, dass das 08/15, die Chiffre für Massenware, das erste einheitliche Maschinengewehr im Deutschen Reich war.
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Gesellschaft

Weil es nie egal ist, wie das Gemeinte genannt wird, empört sich Sprachtheoretiker Jürgen Trabant in der SZ über den Begriff des Zuwanders, der im politischen Sprachgebrauch den Einwanderer ersetzt hat. Feige findet Trabant das: "Der ZUgang ist etwas anderes als der EINgang, ZUflüstern ist etwas anderes als EINflüstern, ein ZUlauf etwas anderes als ein EINlauf und so weiter. Der Eingang führt ins Innere, der Zugang nur auf das Ziel hin, in seine Nähe, vielleicht sogar nur bis zum Eingang. Zuflüstern ist eine eher harmlose Aktivität, Einflüstern zielt auf das Innere. Die Wörter mit 'Ein' bezeichnen Vorgänge, Menschen und Dinge, die das Innere oder den Kern von etwas betreffen. 'Zu' führt nur an etwas heran, nicht in etwas hinein."

In einer ihrer schönen Geschichten aus Korea erzählt Ho Nam Seelmann in der NZZ, dass Frauen nach der Entbindung jetzt nicht mehr zu ihren Müttern ziehen, sondern in "Heime zur Pflege von Frauen nach der Entbindung": "In Korea herrscht die Ansicht, dass, vernachlässigt man die Pflege des Körpers nach der Entbindung, dies die Ursache von verschiedenartigen späteren Krankheiten wird. So sind diese 'Heime' für frischgebackene Mütter ganz darauf ausgerichtet, den Körper der Frauen wiederherzustellen."
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Internet

Das Berliner Start Up Readmill, eine App zum Lesen von Ebooks auf Smartphones und Tablets, steht vor der Übernahme durch den Cloud-Anbieter Dropbox, meldet TechCrunch. "Treue Nutzer des Dienstes sollten sich mental auf eine Schließung vorbereiten", meint Martin Weigert in Netzwertig. Readmill wollte SocialReading mit Empfehlungs- und Diskussionsmöglichkeiten eröffnen: "Doch obwohl der Dienst durchaus eine treue Fangemeinde um sich scharen konnte (wie auch einige Kommentare unterhalb des TechCrunch-Artikels zeigen), scheint das Konzept am Ende nicht mehr als die Bedürfnisse einer Nischenzielgruppe zu befriedigen."

Die Türkei sperrt jetzt nicht mehr nur Twitter, sondern auch Tor, berichtet Anna Biselli auf Netzpolitik: "Tor war eine der verbleibenden Möglichkeiten, auf Twitter zuzugreifen, da die IP-Adresse, von der aus der Dienst aufgerufen wird, maskiert ist und dementsprechend nicht auf die Türkei zurückgeführt werden kann. Der Dienst hat in den letzten Tagen einen großen Ansturm türkischer Nutzer erlebt."

Und Sueddeutsche.de meldet: "Die türkischen Behörden haben Zugangssperren für die Videoplattform Youtube angeordnet. Entsprechende Anweisungen seien an Mobilfunkanbieter und Internet-Provider des Landes ergangen, berichtet die türkische Zeitung Hürriyet."
Archiv: Internet

Kulturpolitik

Peter Dittmar klingt in der Welt nicht zufrieden in seinem Kommentar zu den neuen Enthüllungen von SZ und Co. zu Cornelius Gurlitt und weist auf eine Besonderheit des Gurlitt-Falls hin. Normalerweise würden Restititutionsfälle von Anwälten aufgebracht, die auf Klägerseite über Provisionen mit verdienen wollten. Bei Gurlitt sei die Sache andersherum, die beklagte Seite halte das Heft in der Hand: "Das zeigt sich auf der Internetseite gurlitt.info, die geschickt das Für und Wider ausbalanciert. Das verrät das Einbeziehen des Rechercheteams von SZ, NDR und WDR." Überschrift von Dittmars Artikel: "Anfang vom Ende eines Skandals."

Brigitte Werneburg möchte in der taz vor allem nicht Cornelius Gurlitt die Entscheidung überlassen, welche der von ihm gehorteten Werke Raubkunst sind und zurückgegeben werden müssen, sondern Provenienzforschern.

In der SZ zeigt sich Heribert Prantl im Fall Gurlitt hin- und hergerissen zwischen Recht und Moral: "Da wurde wegen eines mickrigen Steuervorwurfs auf einen Hundert-Millionen-Wert zugegriffen. Der strafrechtliche Zugriff auf den Kunstschatz war unverhältnismäßig, er ist ein Skandal. Aber zugleich war dieser Zugriff gesegnet - gesegnet mit einer phantastischen Entdeckung, Enthüllung und Offenbarung. Eine falsche Anwendung des Rechts hat dazu geführt, dass die Wahrheit über die Bilder und ihr Schicksal entdeckt wurde oder entdeckt werden kann."

Außerdem: Julia Voss begrüßt für die FAZ die Meldung dass Cornelius Gurlitt zur Restitution von Kunstwerken bereit sind, geraubt wurden, obwohl er rechtlich dazu nicht verpflichtet ist, aber sie hat auch noch eine Frage: "Bis heute ist unbekannt, ob der Matisse und einige weitere Gemälde der Sammlung als Sonderfälle gelten müssen - oder ob sie repräsentativ für Dutzende weitere sind." Stefan Koldehoff geht in einem zweiten Artikel der Frage nach, inwieweit es sich bei den 238 neu aufgefundenen Werken um geraubte Kunst handelt.
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Medien

Frank Schirrmacher nimmt den Siemens-Chef Joe Kaeser, der in aller Unschuld Geschäfte mit Wladimir Putin tätigen will, in Schutz gegen den aggressiven Echtzeitjournalismus des Heute Journals und rät zur Mäßigung: "Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Henry Kissinger haben alle höchst abwägend und behutsam auf die aktuellen Ereignisse reagiert. Der Echtzeitdramaturg sagt: weil sie alt sind. Alter ist kein Kriterium für Rationalität. Entschleunigung aber ist es." Hier das inquisitorische Interview im heute journal, das Schirrmacher aus seiner meditativen Stimmung riss.

Apropos Gedankenflucht: In der NZZ findet Ulrich Schmid die große Koalition der Putin-Freunde eher befremdlich: "Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sitzen im Boot, das auch Peter Gauweiler trägt. Nichts mehr strukturiert das weite Feld, nicht einmal die Sucht nach der Verehrung greiser Staatenlenker wie Helmut Schmidt, Genscher oder Weizsäcker, auf die doch so lange kaum ein Deutscher hatte verzichten wollen."

Recht drastisch der Kommentar von turi2 zu einer Meldung des Werbebranchenblatts Werben und Verkaufen: "Prostitution auf dem Vormarsch." WuV hat herausgefunden, dass das Handelsblatt offenbar Seite 3-Artikel an Werbetreibende verkauft: " In einer Mail, die WuV vorliegt, schreibt der Anzeigenverkäufer über den Seite-3-Artikel 'Preis = 5.000 Euro'. Die gekaufte Werbung werde 'redaktionell absolut harmonisch integriert' und vom Leser 'als Beitrag der Redaktion wahrgenommen'."

Und noch eine Meldung aus turi2: "Entkernung in Düsseldorf: Der Girardet-Verlag entlässt bei der Westdeutschen Zeitung 50 von 100 redaktionellen Mitarbeitern, die Zeitung gibt ihre Vollredaktion auf." Mehr bei newsroom.de und bei Dradio Wissen, hier.
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