9punkt - Die Debattenrundschau

Stahlhartes Gehäuse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2014. In der Welt erklärt Sofi Oksanen, warum die russischen Minderheiten in den Anrainerstaaten zu Russland nicht als Argument für Annexionen dienen dürfen. War Edward Snowdens Auftritt in Putins Propagandashow seiner Abhängigkeit von Putin geschuldet? Ausgerechnet die Washington Post findet, dass er seine Würde verloren habe. Und wer Germaine Tillons Brief an die Gestapo liest, den Slate.fr veröffentlicht, versteht, warum ihre sterblichen Überreste ins Panthéon überführt werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2014 finden Sie hier

Geschichte

Die Ethnologin Germaine Tillon gehörte zur berühmten Widerstandsgruppe, die im Pariser Musée de l'Homme entstand. 2008 ist sie im Alter von 101 Jahren verstorben. Nun sollen die sterblichen Überreste der einst nach Ravensbrück Deportierten ins Panthéon überführt werden. Slate.fr publiziert einen Brief der Widerständlerin an die Gestapo, in der sie voll geradezu majestätischer Ironie auf Vorwürfe antwortet, die ihr von den Besatzern gemacht wurden - etwa den Vorwurf, sie habe bei sich zuhause alliierte Fallschirmspringer logieren lassen: "Es hätte mich wirklich sehr in Verlegenheit gebracht, wenn ein Fallschirmspringer in meinem Garten gelandet wäre, denn es ist mir völlig unmöglich, jemanden bei mir unterzubringen, ohne dass das gesamte Stadtviertel sofort Bescheid weiß: Meine 93-jährige Großmutter geht immer noch im Viertel einkaufen und plaudert gern mit den Ladenbesitzern. Übrigens haben wir seit 25 Jahren eine Zugehfrau, eine exzellente Person, aber die geschwätzigste und furchtsamste im ganzen Département."
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Medien

(Via Sueddeutsche.de) Ausnahmsweise binden wir mal Russia Today ein. Edward Snowden hat sich in Waldimir Putins Propagandashow im russischen Fernsehen vorführen lassen. Russia Today liefert den unbehaglichen Moment in englischer Übersetzung:



Die SZ merkt zu dieser Szene an: "Snowden ist von Putin abhängig. Der NSA-Whistleblower hat im August Asyl in Russland bekommen. Der Aufenthalt ist aber für ein Jahr befristet. Was im Sommer passiert, ist völlig offen. Wird Snowden an die USA ausgeliefert, drohen ihm eine Anklage und eine lange Haftstrafe."

In den USA gibt es wesentlich bösere Kommentare zu Snowdens Auftritt: "Edward Snowden Is Russia's Puppet Now", schreibt Benjamin Wittes in der New Republic. Und Stephen Stromberg schreibt in der Washington Post, die wegen Snowdens Enthüllungen gerade den Pulitzer-Preis absahnte: "Snowden surrendered any remaining shred of dignity on Thursday. If he had any choice in the matter, he should have declined to appear. If he did not have a choice, he should have surrendered to the U.S. embassy before humiliating himself."

Angesichts der Tatsache, dass in den USA immer mehr Medien von Mäzenen übernommen werden (siehe Jeff Bezos und die Washington Post oder Pierre Omidyar und The Intercept) fragt sich der Bourdieu-Schüler Marco d'Eramo in der taz, ob Medien in den USA nicht den Weg der Elite-Unis gehen, die heute ebenfalls über Spenden finanziert werden: "Die Ware, die an den Hochschulen, erzeugt wird, ist 'Wissen', so wie die der Zeitungen 'Information' ist. Doch in beiden Fällen ist der einzige Weg, sie zu finanzieren, der der privaten Schenkung, mit der impliziten Folge, dass diese Information, dass dieses Wissen einer immer kleiner werdenden Elite vorbehalten bleibt."

Joseph Wälzholz greift in seiner Kolumne in der Literarischen Welt die Polemik Wolfram Schüttes gegen den Perlentaucher auf, dem Schütte mangelndes Verständnis für Russland vorwarf. Aber Wälzholz mag beide nicht: Gegen Schütte hat er einen ästhetischen Einwand (die vielen &-Zeichen), den Perlentaucher findet er dagegen "politisch nicht gefestigt".
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Ideen

Max Weber suchte vor allem eine Antwort auf Karl Marx, schreibt Detlev Claussen in einem taz-Essay und wirft den beiden neuen Weber-Biografien (hier und hier) vor, diesen Aspekt zu vernachlässigen: "Webers Prognose für den Kapitalismus liest sich düster - er versuchte die Genese seiner modernen Gestalt aus dem Geist des Protestantismus zu erklären, sah aber die Askese puritanischer Moral den christlichen Mantel abstreifen, aus dem Bürger einen Fachmenschen werden, der in einem 'stahlharten Gehäuse' von gesellschaftlicher Abhängigkeit gefangen ist." Wie genau die Antwort auf Marx nun eigentlich lautet, lässt Claussen aber leider offen.
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Europa

Die russischen Minderheiten als Argumente für eine Annexion anzuführen, ist perfide, meint die estnisch-finnische Schriftstellerin Sofi Oksanen in der Literarischen Welt, denn sie wurden meist von Stalin in diesem Ländern angesiedelt, um sie zu russifizieren: "Die baltischen Staaten müssen sich jetzt seit Jahren von Russland diese Art Rhetorik anhören. Der Rest der Welt weiß relativ wenig über diese Länder - genau wie über die Ukraine. Daher ist die russische Agenda - ihr Recht auf Selbstbestimmung in Frage zu stellen - keineswegs eine unmögliche Aufgabe."

Ulrich M. Schmid schildert in der NZZ die dunklen Hintergründe zu der heute oft angeführten Entscheidungung Nikita Chruschtschows im Jahr 1954, die Krim der Ukraine zuzuschlagen: "1954 war ein besonderes Jahr für die ukrainisch-russischen Beziehungen: Man feierte das 300-Jahr-Jubiläum der Brüderschaft der beiden Völker. 1654 hatten die ukrainischen Kosaken in Perejaslaw einen Treueeid auf den russischen Zaren abgelegt, um einen mächtigen Verbündeten im Kampf gegen die polnische Übermacht zu gewinnen. Aus russischer Sicht wird dieser Vertrag bis heute als Wille der Ukraine interpretiert, zu Russland zu gehören." Und die krim wurde ihnen gerade geschenkt, um ihre Liebe zu Moskau zu belohnen!

Im Live-Blog der Zeit lässt sich recht gut verfolgen, was sich in der Ukraine nach der Genfer Vereinbarung tatsächlich tut.
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