9punkt - Die Debattenrundschau

Wild winkend, hüpfend, johlend

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2014. Google darf laut Europäischem Gerichtshof nicht mehr auf einen Zeitungsartikel verweisen, der selbst unbeanstandet bleibt. Die Zeitungen jubeln. Lawblogger Thomas Stadler ist entsetzt. Eine PBS-Dokumentation erzählt, wie die New York Times Informationen über Überwachung freiwillig unterdrückte. In der SZ kritisiert Terry Eagleton den Kapitalismus. Im Spiegel meint Asfa-Wossen Asserate zum Fall der entführten Mädchen in Nigeria: Das einzige Mittel gegen religiöse Gewalt ist Religion.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.05.2014 finden Sie hier

Internet

Das Urteil des Europäische Gerichtshofs, das Google zwingt, die Daten eines spanischen Bürgers zu löschen (während der Zeitungsartikel, auf den Google verwies, unbeanstandet bleibt), stößt auf kontroverse Reaktionen im Netz. Markus Beckedahl begrüßt es auf Netzpolitik eher, besonders weil das Gericht Google nicht mehr die Rückzugsbehauptung abnimmt, es sei gar kein europäisches Unternehmen: "Auch schön, dass es mal ein EuGH-Urteil gibt, das einen Zusammenhang zwischen Verantwortung und Werbeanzeigen-Verkaufsniederlassung bringt. Das könnte weitere Auswirkungen auf andere Player haben... Facebook und Google sitzen mit Werbeanzeigen-Verkaufsniederlassungen in Hamburg, fühlen sich aber nicht für Deutschland verantwortlich."

Skeptischer klingt der Lawblogger Udo Vetter: "Sicher ist nach dem Urteil, dass für Suchmaschinen ab heute andere Spielregeln gelten. Das mag für einzelne einen höheren Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte bedeuten. Auf der anderen Seite steigt aber auch die Gefahr, dass die Suchmaschinen künftig noch weniger die Wirklichkeit abbilden, als sie das (aus kommerziellen) Gründen schon heute tun."

Ganz kritisch sieht es dagegen der andere Lawblogger, Thomas Stadler: "Der EuGH etabliert mit dieser Entscheidung nichts anderes als eine weitere Spielart der Netzsperren, durch die die Meinungs- und Informationsfreiheit im Netz beeinträchtigt wird. Das ist für die europäischen Bürger mit Sicherheit keine gute Nachricht. Wer gegen Netzsperren aufgestanden ist, muss diese Entscheidung des EuGH ebenfalls ablehnen."

Die konservativen Google-Kritiker in den Zeitungen triumphieren dagegen - und bejubeln nebenbei ihre eigene gerichtlich verfügte Irrelevanz, denn die Zeitung Vanguardia, die über die Insolvenz des spanischen Bürgers berichtet hatte, muss ihren Bericht nicht zurücknehmen, aber Google den Verweis darauf löschen, weil er schadet, der Bericht in der Zeitung aber offenbar nicht. Ulrich Clauss jubelt in der Welt: "Es war ein kleiner Schritt für die Richter des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), aber ein großer Schritt zur Rückeroberung des Cyberspace für den Internetbenutzer." Ähnlich Reinhard Müller im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ: "Der Riese ist getroffen. Der mächtigste Konzern der Welt ist einer Macht unterlegen, die keine Truppen hat. Der Europäische Gerichtshof setzt den Bürger in den Mittelpunkt und dem Internetsuchdienst Google Grenzen." Und Bernd Graff kommentiert in der SZ: "Das ist, nach der Aufdeckung der NSA-Affäre vor gut einem Jahr, ein richtungsweisendes Urteil zur Stärkung und Behauptung der Datenschutz-Grundsätze der informellen Selbstbestimmung. Vor allem eines, das die Diensteanbieter im Netz ins Schwitzen bringen dürfte."Außerdem berichten Zeit online (hier) und die taz (hier und hier). Martin Dahms porträtiert für den Tages-Anzeiger den Handschriftengutachter Mario Castejo, dessen Klage zu diesem aufehenerregenden Urteil geführt hat.

Stefan Niggemeier erklärt, warum die stark beachteten Krautreporter, zu denen er gehört, ein Internetmedium ganz ohne Werbung gründen wollen - um nicht ständig an die Quote zu denken: "Wild winkend, hüpfend, johlend kämpfen im Netz Artikel um meine Aufmerksamkeit, betteln darum, geklickt zu werden. Im Zweifel gewinnt eine übergeigte Überschrift, die durch den Inhalt des Artikels kaum gedeckt wird. Im Zweifel gewinnt die besonders steile These, die besonders überdrehte Pointierung, die besonders skandalisierende Interpretation."
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Religion

Asfa-Wossen Asserate spricht im Interview mit Takis Würger von Spiegel Online ausführlich über die religiöse Gewalt in Afrika, die zuletzt zur Entführung von über 200 zum großen Teil christlichen Mädchen durch eine islamistische Terrortruppe führte und sagt dann auf die Frage, ob die Welt ohne Religion besser wäre: "Nein, Religion ist eine wunderbare Institution, um Toleranz zu verbreiten. In der Hingabe zu Gott kann der Gläubige erkennen, was ihn mit anderen Gläubigen verbindet."
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Medien

Das Verfassungsgericht von Rheinland-Pfalz hat die Zwangsgebühr für den Rundfunkbeitrag in allen Punkten für rechtens erklärt. In der FAZ schildert Michael Hanfeld die Urteilsgründe und erste Reaktionen. In der Berliner Zeitung berichtet Ulrike Simon.
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Ideen

Ilija Trojanow hat aus Constanze Kurz' und Frank Riegers Buch "Arbeitsfrei" gelernt, dass immer mehr Tätigkeiten von Robotern übernommen werden. Und warum auch nicht? Man muss sich nur die richtigen Fragen stellen, meint er in der taz: "Da gleichzeitig die Konzentration von Vermögen enorm zunimmt - eine logische Begleiterscheinung, denn der entscheidende Faktor bei einer (fast) vollautomatisierten Produktion ist natürlich das Kapital -, müssen wir uns bald die Frage stellen, ob wir einen neuen autoritären Feudalismus wollen oder bereit sind, eine völlige Umgestaltung der Wirtschaft vorzunehmen." Trojanow plädiert für eine "neue Form der Allmende".

Im Interview mit der SZ denkt der britische Marxist und Literaturwissenschaftler Terry Eagleton über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Marx und Nietzsche nach. Und er macht den Kapitalismus für die Vernichtung der letzten Räume kritischen Denkens verantwortlich - zum Beispiel an den Universitäten: "Diese Institutionen werden mehr und mehr zu Werkzeugen des fortgeschrittenen Kapitalismus. Ich mache hier keine Witze oder übertreibe: In zwanzig Jahren könnte es in Großbritannien keine Geisteswissenschaften mehr geben. Die Leute, die die Institutionen leiten, wollen sie los werden, weil sie im Prinzip kein Geld bringen. Aber auch deshalb, weil sie Verlegenheit auslösen, weil sie unbequem sind, weil sie nicht reinpassen. Das ist eine geistige Krise von enormen Dimensionen."
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Überwachung

Lange bevor Edward Snowden das Ausmaß der Überwachung enthüllte, gab es über sie Debatten, nur wurden sie unterdrückt, berichtet Xeni Jardin in Boingboing unter Verweis auf die PBS-Frontline-Dokumentation "United States of Secrets", die gestern ausgestrahlt wurde (und die im Netz zu sehen ist). Schon 2004 wollte der New York Times-Reporter James Risen die seit dem 11. September 2001 installierte Überwachung enthüllen. Es kam nicht dazu: "Die Beamten des Weißen Hauses brachten gegenüber den Redakteuren drei Argumente vor:
1. Es ist total legal
2. Es ist ein verletzliche Geheimnis. Wenn du es enthüllst, könnten Hunderttausende Amerikaner bei Attacken sterben.
3. Es funktioniert. Ihr glaubt nicht, wie viele konkrete Bedrohungen wir gestoppt haben.
Der frühere Chefredakteur der Times, Bill Keller, kippte die Story, zur Empörung Risens."
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Kulturpolitik

Cornelius Gurlitt hat offenbar zwei Testamente hinterlassen. In dem neueren wird das Kunstmuseum Bern nicht als Erbe bestätigt, meldet Spon. In der NZZ schildert Samuel Herzog die Probleme, die Bern mit dem Erbe bekommen könnte. Er stellt sich eher ein Gurlitt-Museum in Bayern vor: "Kein Museum der großen Geschichte oder der Kunsthistorie, sondern ein Museum der individuellen Schicksale von Menschen und Bildern - ein Museum notabene, in dem auch das eigentümliche Los des Cornelius Gurlitt seinen Platz gefunden hätte."

Und Claudia Schoch erklärt die rechtlichen Unterschiede bei der Restitution von Raubkunst in der Schweiz und in Deutschland.
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