9punkt - Die Debattenrundschau

Die positive Sogwirkung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2014. Es wird weiter über das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs diskutiert: Ist das Internet an die Stelle der Zeitungsöffentlichkeit getreten? Und wo beginnt das Recht auf Vergessen? Die New York Times hat einige der Schulmädchen getroffen, die Boko Haram entfliehen konnten. In der Zeit bringt Juli Zeh einen zweiten öffentlichen Brief an die Kanzlerin: "Mir will einfach nicht in den Kopf, warum Sie nicht reagieren." Und nebenbei: Die Kommunikation sämtlicher Bundestagsabgeordneter wird routinemäßig überwacht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.05.2014 finden Sie hier

Internet

Viele Zeitungen haben gestern gejubelt über das Urteil der Europäischen Gerichtshof, das Google zwingt, Links auf Zeitungsartikel herauszunehmen, wenn Personen sich dadurch belästigt fühlen. Nebenbei bejubelten sie den Verfall ihrer Relevanz. Das Urteil liegt jetzt im Volltext vor, informiert der Lawblogger Thomas Stadler auf Carta, und er macht auf eine bemerkenswerte Passage aufmerksam: "Der EuGH spricht davon, dass Informationen erst durch Google einer allgemeinen Öffentlichkeit ("general public") zugänglich gemacht werden, was bedeutet, dass sie ohne Google nur einer eingeschränkten Öffentlichkeit zugänglich sind." Kurz: Seit gestern haben wir eine Zweiklassen-Informationsgesellschaft.

Kritische Töne zum Urteil jetzt auch bei Netzpolitik.org. Leonhard Dobusch begrüßt zwar ausdrücklich, dass das Gericht Google nun endlich europäischen Datenschutzrichtlinnen unterwirft. Er kritisiert aber den Haupttenor des Urteils: "Die Grundrechte auf Datenschutz und Privatsphäre wollen abgewogen werden gegenüber der ebenfalls grundrechtlich geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit. Genau dieser Abwägung verweigert sich der EuGH jedoch in seinem Urteil, indem er dem Datenschutzinteresse des Einzelnen relativ weitreichenden Vorrang einräumt und qua richterlicher Rechtsfortbildung ein "Recht auf Vergessenwerden" postuliert."

Dobusch verweist auf eine instruktive Analyse Hans Peter Lehofers in seinem Blog e-comm, der ebenfalls die Ungleichbehandlung von Zeitungen und Internetdiensten kritisiert: "Eine Veröffentlichung im Online-Auftritt eines Regionalmediums könnte beispielsweise zulässig sein, und dennoch dürfte sie über Google (oder andere Suchmaschinen) nicht gefunden werden."

Petra Sorge konstatiert im Tagesspiegel, dass das Urteil mehr Fragen aufwirft als beantwortet, besonders diese: "Ab wann etwa darf ein EU-Bürger eigentlich seine Daten löschen lassen? Nur, wenn seine Zwangsversteigerung bereits 16 Jahre her ist - wie im Fall des spanischen Klägers?" Ganz genau dieselbe Frage stellt James Ball im Guardian: "After how long does a bankruptcy ruling become something that should be private?"

Und Sascha Lobo merkt in seiner Spiegel-Online-Kolumne an: "Vergessen ist etwas, was Personen tun. Maschinen vergessen Daten nicht, außer man löscht sie. Der Unterschied ist essenziell. Denn konkret wird Google auf diese Weise gerichtsoffiziell zum Gedächtnis der Öffentlichkeit erklärt."

Kaum haben die Krautreporter ihr ambitioniertes Unterfangen angekündigt, da wird es in Netzdebatten schon runtergeredet, bemerkt Martin Weigert, der in Schweden lebt, in Netzwertig. Warum ist Deutschland so demotivierend? " Im Startupbereich ist das Resultat leider, dass vieles nicht verwirklicht werden kann, weil die positive Sogwirkung fehlt, die zum Freisetzen der Kräfte benötigt wird. Deshalb hat Deutschland noch immer keine Digitalfirmen zu bieten, die es auf das ganz große Parkett geschafft haben, und deshalb sind Deutsche so "lächerlich risikoscheu", wie es der US-Wagniskapitalgeber Ben Horowitz gerade bemerkte."
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Medien

In der taz schreibt Simone Schlindwein den Nachruf auf die 26-jährige französische Kriegsfotografin Camille Lepage, deren Leiche in der Zentralafrikanischen Republik auf einem Lastwagen mit fünf anderen Leichen gefunden wurde.

Johan Schloemann sieht auf der Medienseite der SZ so etwas wie ein "Staatsfeuilleton" heranwachsen - womit er opulente Magazine üppig subventionierter Kulturbetriebe meint: "Es ist nicht leicht, das neue Staatsfeuilleton im subventionierten deutschen Kulturföderalismus als Problem zu benennen. Zu leicht gerät man in das Netz von Neid und Betriebsnähe... Viele gute Kollegen, viele geschätzte Autoren beteiligen sich daran. Aber man sollte sich trotzdem fragen, was für eine öffentliche Sonderwelt da herangewachsen ist."
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Überwachung

In der Zeit kann es Juli Zeh in einem Brief an die Bundeskanzlerin nicht fassen, dass diese immer noch keine Strategie für die Sicherung der Freiheitsrechte im digitalen Zeitalter hat: "Mir will einfach nicht in den Kopf, warum Sie nicht reagieren. ... Worauf warten Sie denn, Frau Merkel? Auf Umfragen, die Ihnen zusichern, dass das Thema Datenschutz über den Ausgang der nächsten Wahl entscheidet?"

Der Versuch der Merkel-Gabriel-Regierung, eine Befragung Edward Snowdens über die NSA-Affäre in Deutschland zu verhindert, "grenzt an politische Nötigung", meint im Tagesspiegel Peter von Becker. "Jede Befragung Snowdens allein per Videoschaltung oder vor Ort in Moskau, selbst in den Räumen der deutschen Botschaft, würde die Vertraulichkeit, weil Abhör-Sicherheit der Ausschussarbeit gefährden. Die Bundesregierung jedoch ist dem Parlament verpflichtet und dies nach dem Grundgesetz auch zur Unterstützung der Arbeit seiner Untersuchungsausschüsse. Eine Regierung, die das missachtet, rührt an den Kern der repräsentativen Demokratie."

Die Zeit unterhält sich mit Glenn Greenwald über dessen Buch über die NSA-Affäre, das wiederum begeistert von Andrian Kreye in der SZ besprochen wird: "Ohne das auszuformulieren, gelingt Glenn Greenwald dabei das Porträt eines Archetypen. Snowden ist eben nicht nur der Sonderfall. Er ist der exemplarische Vertreter einer Generation, die im Internet 'das Epizentrum unserer Welt' entdeckt hat, wie es Greenwald in der Einführung beschreibt."

Der Ex-SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy hat sich beschwert, dass seine Mails sehr viel länger als die vorgesehenen drei Monate gespeichert wurden, lesen wir in einer Meldung bei Spon. Dabei erfährt man ganz nebenbei, dass die Kommunikation aller Bundestagsabgeordneten routinemäßig überwacht wird: "Die Akten des LKA legten darüber hinaus nahe, dass die Bundestagsverwaltung von allen Abgeordneten sämtliche Internet-Verbindungsdaten, die IP-Adressen, die im Internet aufgerufenen Seiten, die Uhrzeiten des Seitenaufrufs, den sogenannten Datentraffic, sämtliche Emails und alle Anfragen bei Suchmaschinen speichere."
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Europa

Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von einer Berliner Podiumsveranstaltung mit Adam Michnik und Juri Andruchowytsch über die aktuelle Lage in der Ukraine. Andruchowytsch meinte resigniert: "'Der Osten ist verloren'. Die Regionen Donezk und Lugansk seien inzwischen zu fest in der Hand der Separatisten, 'ach was, Separatisten, das ist ein viel zu schönes Wort. Kriminelle sind das, die sich anscheinend auch untereinander schon heftig bekämpfen'." In der Zeit bestätigt Alice Bota diesen Eindruck in einer Reportage aus der Ostukraine: "Es kämpfen jetzt viele um die Macht. Die Se­paratisten rüsten auf. Auch kriminelle Banden mischen in Mariupol und Donezk mit. Sie kön­nen im Schutze der Gesetzlosigkeit Geschäfte machen."

Sandra Kegel empfiehlt in der FAZ einen von Katharina Raabe und von Juri Andruchowytsch herausgegebenen Suhrkamp-Band bei mit dem höchst aktuellen Titel "Euromaidan": "Was Autoren wie Kateryna Mishchenko, Katja Petrowskaja und Tanja Maljartschuk in ihren Texten für den Band 'Euromaidan' beschreiben, kreist ein ums andere Mal darum, wie Systeme Menschen zerstören können: 'Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich meine ganzen dreißig Jahre lang Angst davor hatte, die Tür des Büros eines Beamten zu öffnen?', schreibt Tanja Maljartschuk."

Alexander Kratochvil informiert uns in der taz, dass der ukrainische Regisseur Pawlo Jurow und der Künster Denis Hryschtschuk von prorussischen Separatisten in Slawjansk verschleppt worden seien: "Vor einigen Tagen berichtete ein Augenzeuge, dass Jurow und Hryschtschuk noch leben, aber geschlagen würden."

Ulrich Schulte begleitet für die taz den SPD-Politiker und Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten der EU Martin Schulz beim Europawahlkampf. Man erfährt leider nicht viel darüber, wofür Schulz politisch steht, aber das mag zum Teil auch an dem Mann selbst liegen: "Ein Beispiel liefert TTIP, das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa. Eigentlich ist Schulz ein überzeugter Anhänger. Doch viele SPD-Wähler vermuten hinter dem Abkommen einen konspirativen Akt, bei dem sich Großkonzerne gegen die Verbraucher verschwören. Also würzt Schulz seine Reden neuerdings mit einer Prise Skepsis."

Das Dossier der Zeit widmet sich dem Zweikampf zwischen FDP und AfD um die Gunst des deutschen Bürgertums bei der Europawahl.
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Religion

Endlich kommen erste Reportagen aus Nigeria. Adam Nossiter hat sich für die New York Times mit einigen der Schulmädchen getrofffen, die Boko Haram entfliehen konnten: "They told us: 'We are Boko Haram. We will burn your school. You shall not do school again,' Ms. Bishara said. 'You shall do Islamic school.' And they were shouting, 'Allahu akbar!'"
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Kulturpolitik

In der Zeit erzählt Philipp Oswalt, ehemaliger Direktor des Bauhauses in Dessau, wie ihn der sachsen-anhaltinische Kultusminister Stephan Dorgerloh quasi aus dem Amt ekelte, nachdem er sich nicht willfährig genug gezeigt hatte. Die Strategien, meint er, sind in solchen Fällen wohl immer dieselben: "Gründe werden keine genannt, stattdessen einstimmige Gremienbeschlüsse organisiert. Und deren Einstimmigkeit erweckt den Eindruck einer schlüssigen Lösung und erlaubt zudem jedem der Entscheidungsträger, sich hinter der Gruppen­entscheidung verstecken zu können und nicht eine persönliche Entscheidung begründen zu müssen. Mit Einstimmigkeit und dem Verzicht auf inhalt­liche Argumente werden mögliche Angriffsflächen für Kritik vermieden."
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Ideen

Sabine Selchow hat sich für die FAZ mit Ulrich Beck und Bruno Latour über den Klimawandel unterhalten: Ulrich Beck will angesichts der annoncierten Katastrophe "die Duale national-international, Wir-Die, Freund-Feind" neu denken" Und Bruno Latour stimmt in diesem Punkt zu: "Klimakonflikte sind sehr produktive Wege, Begriffe wie Macht, Ungleichheit und Gerechtigkeit neu zu definieren."

Weiteres: In der NZZ gratuliert Joachim Güntner Ulrich Beck zum Siebzigsten. In der Zeit schildert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen den Kampf der Postmodernisten mit den Neuen Realisten um die Deutungshoheit in den Geisteswissenschaften.
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Geschichte



Roman Hollenstein hat sich für die NZZ eine Ausstellung in Trier zu antikem Städtebau und Stadtleben angesehen (Bild). In der Zeit schreibt Volker Weiss über die große Werkbund-Schau 1914. Und Tilmann Bendikowski erinnert daran, dass vor 300 Jahren erstmals ein Deutscher den englischen Thron bestieg.
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