9punkt - Die Debattenrundschau

Das Ende der Epoche des Schweigens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2014. Die Ukraine ist laut Adam Michnik in der Welt sehr wohl eine Nation. Die NZZ erklärt, was das ukrainische Nationalgefühl mit Tschernobyl zu tun hat. Emma freut sich über iranische Frauen, die auf Facebook das Kopftuch ablegen. Die Krautreporter sind auch deshalb zu unterstützen, weil die Öffentlich-Rechtlichen im Netz versagen, meint Neunetz. In der FAZ macht Sigmar Gabriel einen Diener. Das EuGH-Urteil gegen Suchmaschinen sorgt weiter für Debatten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2014 finden Sie hier

Europa

Wie die Ukrainer wurden, was sie sind, das hat Gerhard Gnauck aus einem Interviewbuch der polnischen Reporterin Iza Chruslinska mit der ukrainischen Autorin Oksana Sabuschko gelernt, erzählt er in der NZZ. Die Befreiung von Russland begann mit Tschernobyl: "Mit dem Unglück und der (zunächst ausbleibenden) Reaktion der Behörden beginnt das Gefühl um sich zu greifen, nicht Teil zu sein eines großen gemeinsamen Gemeinwesens, sondern vielmehr von Moskau rücksichtslos kolonialisiert worden zu sein. Etwa als Standort zahlreicher, in der Moskauer Zentrale geplanter Kernkraftwerke, aber beileibe nicht nur. Seitdem ist in der Ukraine der Kolonialismus-Diskurs wichtig geworden. Außerdem brachte Tschernobyl 'das Ende der Epoche des Schweigens' im Land, die Oksana Sabuschko für die Zeit von 1933 (Hungersnot, sich verschärfender Terror) bis eben 1986 ansetzt. Viele Tabus seien damals aufgeweicht worden, vom Umgang mit der Geschichte bis zu jenem mit Körperlichkeit und Sexualität."

Adam Michnik sagt im Interview mit Alan Posener in der Welt ein paar kluge Worte zur Ukraine, der ja von manchen Intellektuellen hierzulande die Existenz abgesprochen wird: "Ein Ukrainer sagte mir: Unser Land lebt aus der Ambiguität. Wir haben eine hybride Nationalität. Wir sprechen Russisch und Ukrainisch. Wir haben vier orthodoxe Kirchen, Katholiken, Muslime und Juden. Putin zerstört diese Ambiguität. War es vor Bismarck in Deutschland nicht ähnlich? In Italien vor Garibaldi? Die Ukraine hat eine andere, aber keine völlig andere Geschichte. Sie ist auch eine verspätete Nation." Zur deutschen Putinolatrie hat Michnik auch etwas zu sagen: "Ich dachte bisher, der Prozess der mentalen Entnazifizierung sei in Deutschland erfolgreich abgeschlossen. Aber man fällt wieder auf eine Propaganda herein, die faschistische Grundzüge trägt."
Archiv: Europa

Internet

Jonathan Zittrain, Juraprofessor in Harvard, zeigt in der New York Times zwar Verständnis für die Sorge, dass die mechanische Auflistung von Sucheinträgen zu einer Person ein verzerrtes Bild ergeben kann. Aber das Urteil des EuGH verstößt seiner Ansicht nach gegen die Meinungs- und Informationsfreiheit. Die Suchmaschinen sollten sich besser selbst etwas zur Lösung dieses Problems einfallen lassen (2007 hat Google es schon mal versucht, das Projekt aber wieder fallen lassen): "Wenn nicht, werden die Ergebnisse der Suchmaschinen nicht mehr von Ihrer Suchanfrage abhängen, sondern vom Standort Ihres Keyboards. Und die Suchmaschinen könnten sich in einem Katz-und-Maus-Spiel mit Zensur und ihrer Umgehung wiederfinden, das nur zu einer Fragmentierung, nicht zu einer Verbesserung des Netzes führt."

Es wurde bisher verkannt, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen Google eigentlich nicht viel mit Datenschutz zu tun hat, die Information über den spanischen Bürger bleibt ja bestehen - nur nicht bei Google, meint Anja Seeliger im Perlentaucher: "Der EuGH hat uns gestern im Handstreich eine Zweiklassen-Informationsgesellschaft beschert. Die, die für Informationen bezahlen, wissen, wer pleite gemacht hat, wer schon mal verurteilt wurde oder wer vor zwanzig Jahren eine karriereschädliche Bemerkung gemacht hat. Die anderen - lernen von den Chinesen oder wissen es eben nicht. So wird die Informationshierarchie der vordigitalen Zeit langsam wieder restauriert."

Im Tagesspiegel warnt Malte Lehming, das Urteil könne dazu führen, "dass sich das egalitäre Moment des Internets in ein elitäres verwandelt. Wer die hohen Kosten für Reputationsmanager und Spezialanwälte nicht zu scheuen braucht, kann sein digitales Image künftig noch leichter aufhübschen, während sich die Habenichtse der realen Welt mit ihrem Suchmaschinen-Charakter nach wie vor abfinden müssen."

Nicht nur die Europäer, auch die Amerikaner arbeiten fleißig an einem Zweiklassen-Internet, berichtet Johannes Kuhn auf SZ online: Die Federal Communications Commission (FCC) hat gerade ihr Papier vorgestellt, wonach Streaming-Portale oder Telemedizin-Firmen künftig gegen Bezahlung eine bessere Geschwindigkeit und/oder Qualität der Übertragung erwerben können und mit dem so gewonnenen Geld die Mindeststandards gehalten werden sollen: "Allerdings hat sich die FCC schon häufiger mit solchen Ideal-Modellen verkalkuliert und ist nun dabei, einen Präzedenzfall zu schaffen, der das Prinzip der Netzneutralität aushebelt."

Nachdem die FAZ einen so schönen Wahlkampf für den SPD-Europapolitiker Martin Schulz gemacht hat, dessen Thesen vom "digitalen Totalitarismus" so gut zur FAZ-Kampagne gegen Google passen, bedankt sich jetzt Sigmar Gabriel artig bei der FAZ (Zusammenfassung bei Spon) und verspricht den Bürgern Schutz vor den Folgen der Digitalisierung: "Aufgabe der europäischen Politik ist es, mit der Kraft einer kristallklaren Analyse, aber auch mit der Eingriffsmacht eines großen Wirtschaftsraums in der Lage zu sein, die demokratisch legitimierte Rechts- und Marktordnung des digitalen Zeitalters neu zu formulieren und dann durchzusetzen, ja durchzukämpfen, wo es sein muss." Dazu gehört für Gabriel unter Umständen auch die Zerschlagung Googles in Europa. Man könnte natürlich auch mit der Abschaffung des Listenprivilegs anfangen, das es deutschen Zeitungen erlaubt, die Daten ihrer Kunden zu Werbezwecken zu verkaufen. Aber das könnte diese "Sternstunde des politisch relevanten Feuilletons" verdunkeln.

Der Blogger Marcel Weiß unterstützt auf Neunetz, nicht ganz ohne skeptische Untertöne, das ambitionierte vorhaben der Krautreporter, die sich ihr kommendes Medium von den Lesern finanzieren lassen wollen - und er macht eine wichtige Nebenbemerkung: "Dass es Bedarf an Krautreporter gibt, ist allerdings auch ein Zeugnis des Versagens nicht nur der privaten Medien, sondern auch und besonders der öffentlich-rechtlichen Medien. Letztere setzen ihre Sonderstellung auf der Erlösseite nicht ein, um im Online-Kontext neue Wege zu gehen. Stattdessen machen sie mehr oder weniger das Gleiche wie die privaten Medien."

In der FAZ schildert Andreas Platthaus den Kampf zwischen Amazon und den Verlagen Hachette, dessen Bücher Amazon wegen Missliebigkeit verlangsamt ausliefert, und Bonnier in Deutschland. Die New York Times berichtete zuerst über ds Thema, hier unser Resümee in der Magazinrundschau.
Archiv: Internet

Kulturpolitik

Mehrere deutsche Museen überlegen, ob sie nicht juristisch gegen die Abwanderung der Gurlitt-Sammlung nach Bern einschreiten. Sie berufen sich darauf, dass manche Werke im Rahmen der Aktion "Entartete Kunst" aus ihren Museen entfernt worden waren, berichten Lucas Wiegelmann und Sally-Charell Delin in der Welt: "Die eingezogenen Werke sind zu unterscheiden von sogenannter Raubkunst: Von Raubkunst spricht man, wenn die Nazis Privatsammler enteignet oder sie zum Verkauf zu unangemessen niedrigen Preisen gedrängt haben. Die 'Aktion Entarteter Kunst' zielte dagegen auf Bilder, die sich in öffentlichen Sammlungen befanden. Damit hat sich der Staat gewissermaßen selbst enteignet."



Dass es zu einer Volksabstimmung über das Flugfeld Tempelhof kommt, hat die piefige Berliner Stadtpolitik mit ihren piefigen Bebauungsplänen für das Areal mal wieder sich selbst zu verdanken, meint Dankwart Guratzsch in der Welt: "Schuld an diesem Versagen ist die Maßstabsverleugnung - die Unfähigkeit, mit Größe und Weite umzugehen, der Versuch der Einfriedung und Befriedung einer heroischen Landschaft, die von den Narben deutscher Geschichte, von Aufschwüngen und Abstürzen, von der funktionalen Perfektion und Gigantomanie gezeichnet ist." (Foto: olaf-ist.net, CC, Quelle: Flickr)
Archiv: Kulturpolitik

Politik

Ein wütender Kommentar der kamerunischen Politikerin Marafa Hamidou Yaya zu Boko Haram und den entführten Mädchen in Nigeria aus Le Monde: "Boko Haram verletzt die Grenzen, um den Terroristen aus dem Mali zu empfangen, und schafft sich Rückzugsbasen im Kamerun, Boko Haram löst westliche Interventionen aus, bringt die Communities gegeneinander auf, indem es ein Regime des Hasses und des Schreckens errichtet, Boko Haram nennt unseren eigenen Dynamismus 'Verwestlichung' - und tut somit alles um den Gang der jüngsten afrikanischen Geschichte, der im Kampf um Unabhängigkeit, Harmonie zwischen den Communities und Entwicklung beteht, rückgängig zu machen."

"Heimliche Freiheiten", auf Englisch: Stealthy Freedoms, heißt ein Schlagwort, unter dem iranische Frauen Bilder von sich ohne Kopftuch bei Facebook posten, berichtet Emma im Internet und bringt einige Bilder von kopftuchlosen Iranerinnen: "Die iranische Journalistin Masih Alinejad hat damit angefangen. Anfang Mai postete die 37-Jährige, geboren in einem kleinen Dorf beim Kaspischen Meer und heute in London im Exil tätig, auf Facebook ein Foto von sich aus dem Jahr 2009, aufgenommen im Iran. Masih sitzt ohne Kopftuch hinter dem Steuer eines Autos. Sie kommentiert: 'Wenn du eine Frau bist und nicht an Zwangsverschleierung glaubst, schaffst du dir heimlich deine Freiheit, egal wo du bist. Damit der Zwang dich nicht zugrunde richtet.' Und weiter: 'Ich wette, viele Frauen besitzen solche Fotos heimlicher Freiheiten!'"

Auch die Seite 3 der SZ bringt ein Porträt von Martin Schulz, dem Kandidaten der SPD für die Europawahl. Die Berliner Zeitung tituliert ihn gar als "Präsident der Herzen". Andere Parteien scheinen die Zeitungen nicht mehr zu kennen.
Archiv: Politik

Medien

Was steht hinter der brüsken Entlassung der New York Times-Chefredakteurin Jill Abramson?, fragt Mathew Ingram auf paidcontent.org. Vielleicht auch das Problem, dass selbst die erfolgreiche Paywall der zweitbesten Onlinepräsenz einer Zeitung auf der Welt, nicht ausreicht, um das Medium zu refinanzieren: Der "metered subscription plan", wie die Zeitung ihn nennt, "bringt ungefähr 150 Millionen Dollar jährlich von Abonnenten ein. Aber diese Einkünfte sind nach wie vor weit davon entfernt, den beständigen Niedergang bei den Print-Anzeigen zu kompensieren, und die Kurve der Neuabonnenten für die Paywall flacht ab - daher die Einführung neuer Apps und Dienste wie NYT Now und NYT Premier."

Uwe Schmitt kommentiert in der Welt die nicht eben sympathischen Umstände der Kündigung Abramsons.

Der neue Rundfunkbeitrag ist rechtmäßig, das haben die Verfassungsgerichte von Bayern und Rheinland-Pfalz entschieden. In der FAZ fragt sich Michael Hanfeld empört, in welcher Parallelwelt die Richter eigentlich leben: "Die Verfassungsrichter behaupten einfach, dass der Rundfunkbeitrag keine Steuer sei - weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine Leistung für alle erbringe, die ein Wert an und für sich sei und es keine Rolle spiele, ob man die Programme empfangen wolle oder nicht. Und sie sagen, dass alle davon einen Nutzen hätten - damit wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk zum Teil der Daseinsvorsorge. Widerspruch oder Ausstieg aus dem System ist unmöglich."
Archiv: Medien

Überwachung

Edward Snowden bekommt die Ehrendoktorwürde der Uni Rostock, meldet Elisabeth Pohl in Netzpolitik: "Schon im Vorfeld teilte sein Anwalt mit, dass Snowden die Ehrung annehmen wird. Allerdings ist die Verleihungszeremonie noch ohne Datum."
Archiv: Überwachung