9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2014. Der Tages-Anzeiger berichtet von einem Wiener Treffen europäischer Erzadliger mit ein paar Rechtsextremen und dem Eurasisten Alexander Dugin zur Unterstützung Putins. Prominente Unterstützer und Schönredner fand auch das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens - wir erinnern. Was kein europäisches Medium gewagt hat: Das berühmte Washingtoner Blog Politico gründet einen Brüsseler Ableger. Beobachtet die Leser: Die SZ bewundert die neuen Personalisierungspläne der NYTimes. Und auch sonst viel Neues zu Überwachung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2014 finden Sie hier

Geschichte

Kleines Wikipedia-Zitat aus dem Artikel über das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens: "Unterstützung fand das harte chinesische Vorgehen gegen die Proteste bei der DDR-Führung. Das Neue Deutschland kommentierte sie am 5. Juni 1989: "Konterrevolutionärer Aufruhr in China wurde durch Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen"... Während eines Besuches des chinesischen Außenministers Qian Qichen in Ost-Berlin lobte der Außenminister der DDR, Oskar Fischer, die engen Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik China; DDR-Politiker wie Hans Modrow, Günter Schabowski und Egon Krenz besuchten China, um ihre Unterstützung zu dokumentieren..."

Helmut Schmidt hatte noch 2012 Verständnis. Die drohende Blamage des von Schmidt bewunderten Deng Xiaoping war schon ein paar Tote wert. Im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo im Zeit-Magazin legte Schmidt dar: Die Militärs "haben zunächst ausgehalten, aber sie wurden mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen und haben sich gewehrt - mit den Waffen, die sie hatten. Gleichzeitig fand, zum ersten Mal seit langer Zeit, der Besuch des Chefs der Sowjetunion in Peking statt. Gorbatschow musste die Große Halle des Volkes durch die Hintertür betreten, weil vor dem Haupteingang die Studenten demonstrierten. Für Deng war das ein enormer Gesichtsverlust."
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Medien

Voller Bewunderung für ihren Mut zur Veränderung referiert Nikolaus Piper in der SZ den "Innovations-Report", mit dem die New York Times ihre künftige digitale Strategie plant (BuzzFeed hat ihn online gestellt). Personalisierung ist das Zauberwort und sie soll möglich werden durch - Sie ahnen es - Datenauswertung der Leser: "Um was es dabei geht, lässt sich am besten am Beispiel einer ganz anderen Branche zeigen. Auch der Einzelhandel muss um die Zukunft im Zeitalter von Amazon kämpfen. Ein Modell sieht so aus: Wer Mitglied auf der Kommunikationsplattform Foursquare ist und das Kaufhaus Macy"s betritt, der bekommt personalisierte Angebote auf sein Smartphone. Der normale Einkauf findet online statt, das herkömmliche Ladengeschäft ist für personalisierte "Erlebnisse" da. Und die Entsprechung: Wer als Times-Abonnent nach Rom fliegt, bekommt schon am Flughafen Tipps für den Italienurlaub von seiner Zeitung. ... Mehr Daten würden einfach helfen, Qualitätsjournalismus an die Leute zu bringen. Deshalb sei keine Gefahr im Verzuge, wenn sich die Redaktion ein "Analyseteam" zulegt, das Leserreaktionen weit über die reinen Klickzahlen hinaus auswertet."

Im Tagesspiegel fordert Harald Martenstein seine Kollegen auf, mehr über die Morde an Frauen zu berichten, die in allen Teilen der Welt begangen werden: weil sie Sex haben, weil sie keinen Sex wollen oder weil sie mit dem falschen Mann Sex haben. Da ist Mariam Ishak, die im Sudan wegen Apostasie ausgepeitscht und hingerichtet werden soll, weil sie zum Christentum übergetreten sei und einen Christen geheiratet habe. In Pakistan wurde vor ein paar Tagen eine schwangere Frau zu Tode gesteinigt, weil sie keine Zwangsehe eingehen wollte und ihren Geliebten heiratete. "Warum erzähle ich das? Weil ich finde, dass in unseren Medien zu selten und zu zurückhaltend über diese Barbarei berichtet wird, diesen Massenmord an Frauen. Wie viele Tausend sind schon unter Qualen gestorben, wie viele müssen noch sterben? Ich finde, so etwas gehört auf die erste Seite."

(Via turi2) Das berühmteste politische Blog aus Washington, Politico, kommt nach Europa, meldet Buzzfeed. "Politico"s model - high-velocity reporting, newsletters consumed by lobbyists and other insiders with money to spend, and a lucrative print business driven by the high value of influence in Washington - is in some ways a natural fit for Brussels, home to the European Parliament and European Commission."
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Gesellschaft

"Trigger-Warnungen" - Kippen Sie diesen Kaffee nicht in Ihren Schoß, er ist HEISS - halten jetzt auch an amerikanischen Universitäten Einzug, berichtet eine kopfschüttelnde Andrea Köhler in der NZZ. "Das angesehene Oberlin College in Ohio, das sich rühmen darf, Vorreiter der Koedukation und der Aufnahme afroamerikanischer Studenten zu sein, hat bereits ein offizielles Regelwerk ans Lehrpersonal ausgegeben: "Be aware of racism, classism, sexism, heterosexism and other issues of privilege and oppression." Die Professoren sind angehalten, sämtliches Material, das bei einschlägig Traumatisierten böse Erinnerungen wachrufen könnte, zu vermeiden oder zu eliminieren - sofern es nicht direkt zum Lernziel beiträgt. Andernfalls soll die Teilnahme an den betreffenden Lektionen freigestellt werden." Auf der Liste steht laut Köhler u.a. Chinua Achebes Roman "Things Fall Apart".
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Politik

Das westliche Desinteresse an Syrien stärkt nicht nur das Regime, sondern auch die Islamisten, wenn man dem Bericht Markus Bickels in der FAZ glaubt. Die syrische Journalistin Razan Zeitouneh ist dort von der eigentlich als moderat geltenden Islamistenorganisation Islamische Armee entführt worden. Der syrische Oppositionelle Rami Nakhla organisiert von der Türkei aus eine Solidaritätskampagne für die Trägerin Sakharov-Preises für Gedankenfreiheit, ohne viel Resonanz: "Das mangelnde Interesse westlicher Medien für den prominenten Fall zeige, dass "die Sorge um die Einhaltung von Menschenrechten in Syrien nach drei Jahren Krieg irrelevant" geworden seien, beklagt Nakhla. Auf allen Seiten. Aus diesem Desinteresse speist sich die Rückkehr von Kidnappen als Kriegstaktik."
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Stichwörter: Islamismus, Syrien, Resonanz

Überwachung

(Via Boingboing) Die Electronic Frontier Foundation hat einen hilfreichen Argumentekatalog gegen die NSA-Verteidiger zusammengestellt. Zunächst mal zählt sie fünf Behauptungen auf, "die NSA-Verteidiger nicht mehr nutzen dürfen, wenn sie glaubhaft bleiben wollen":
1. Die NSA hat 54 Terrorattacken durch Massenüberwachung gestoppt.
2. Metadatensammeln ist wirklich nicht so ein großes Ding
3. Es gibt keinen Machtmissbrauch
4. In die Privatsphäre einzudringen ist okay, wenn es der Abwehr von Terrorattacken dient
5. Die Überwachung wird duch Kongress, Gerichte und Geheimdienstspezialisten kontrolliert.

Zu Punkt 2 sagen die Autoren der Stiftung etwa: "Michael Hayden hat kürzlich eingeräumt, dass "wir auf der Basis von Metadaten Menschen töten". Und der frühere NSA-Funktionär Stu Baker sagte: "Metadaten sagen dir alles über das Leben einer Person. Wenn du genug Metadaten hast, brauchst du keinen Inhalt.""
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Kulturpolitik

Wäre das Berliner Holocaust-Mahnmal ein abgeschirmtes Monument, könnte man es einfach verfallen lassen, meint Karl Gaulhofer in der Presse angesichts brüchiger Stelen. Er denkt dabei an die alten jüdischen Friedhöfe von Prag oder Krakau. Aber das passt nicht zu diesem Ort, der so populär geworden ist: "Und das ist es, was viele Besucher heute am stärksten irritiert: der respektlose Umgang mit dem, was doch Respekt gebietet. Das Areal ist von Currywurstbuden gesäumt. Touris in Badeschlapfen posieren grinsend vor ihren Handykameras, jausnen und sonnen sich auf den Stelen. ... So weist dieses lebendigste aller Denkmäler zum Andenken der Toten auch auf die dümmliche Geschichtsvergessenheit nachfolgender Generationen hin. Doch das Labyrinth der Stelen ist für alle da: Tief unten in den schmalen Gassen lassen sich auch Kontemplation und Besinnung weiter erleben. Das Mahnmal ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die Geschichte im Heute."
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Europa

(Via @fr_schirrmacher) In Wien, im Stadtpalais des Fürsten Liechtenstein, fand eine Tagung des Lieblingsintellektuellen Waldimir Putins Alexander Dugin (Chefdenker des Eurasismus, mehr hier) mit einigen religiös-erzfundamentalistischen Adligen (unter anderem Prinz Sixtus Henri von Bourbon-Parma) und Abgesandten der extremen Rechten Westeuropas (Le Pen-Enkelin Marion Maréchal-Le Pen, FPÖ-Vorsitzender Heinz-Christian Strache) statt, berichtet der Tages-Anzeiger: "Ein Redner sah in Russlands Präsidenten den "Erlöser" und die Reinkarnation Alexander des Ersten. Der Zar hatte die "Heilige Allianz" gegen Napoleon geschmiedet, auf dem Wiener Kongress allerdings auch gedrängt, das besiegte Frankreich wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. So war es für die Tagungsteilnehmer im Jahr 2014 auch kein Problem, Vertreter des Front National in ihrer Mitte zu begrüßen..."

Die ukrainische Kulturministerin Olesja Ostrovska erzählt im Interview mit der SZ, wie sie die Kulturinstitutionen des Landes von Grund auf verändern will. Damit steht sie nicht allein: Im Keller ihrer Behörde haben sich Aktivisten der Maidan-Bewegung einquartiert, die ihr kritisch auf die Finger sehen wollen. Ostrovska nimmts gelassen: "Sie waren hier, weil der Maidan aus dem überwältigenden Wunsch nach Veränderung geboren wurde. Aber wir hatten schon einmal, mit der orangenen Revolution von 2004, so viel erreicht - und letztlich hat es die Politik unseres Landes überhaupt nicht verändert. Jetzt befürchten viele, dass auch die Ergebnisse des Maidan vom System nicht umgesetzt werden."

Die Morde im Jüdischen Museum von Brüssel locken die deutschen Medien kaum hinterm Ofen hervor. Der Täter war Franzose maghrebinischer Herkunft. Le Monde brachte immerhin einen Leitartikel zum Thema: "In Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts tötet man Männer, Frauen und Kinder aus dem einzigen Grund, dass sie Juden sind... Am Tag nach der Europawahl, kurz vor dem Jahrestag der Landung in der Normandie, dieser entscheidenden Etappe in der Niederlage der Nazis, hat der Antisemitismus von Neuem auf diesem Kontinent getötet."

Weitere Artikel: Zwei deutsche Zeitungsredakteure haben Perry Andersons Europa-Analyse in der London Review of Books gelesen. SZler Thomas Steinfeld ist sich ganz sicher: Anders als Anderson meint, sei Beppe Grillo nicht "der eine, der ohne Tadel zu sein scheint". Und für FAZler Jürgen Kaube ist Angela Merkel eh der beste aller europäischen Regierungschefs.
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