9punkt - Die Debattenrundschau

Tendenzen in unseren Körpern

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2014. Europäische Datenschützer fordern, das Recht auf Vergessen auf die ganze Welt auszudehnen. Netzwertig fürchtet darum weltweite Desinformation. Tablet startet eine fünfteilige Serie über den neuen Antisemitismus in Frankreich. Die FR erinnert an das "Interregnum der Intrigen"", das vor genau hundert Jahren in die Katastrophe führte. Die SZ staunt: In Amerika muss man nicht verdächtig sein, um als verdächtig zu gelten. Die FAZ ist empört über die Medienkritik Christian Wulffs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.07.2014 finden Sie hier

Internet

Europäische Datenschützer fordern, das Recht auf Vegessen auszuweiten, berichtet Friedhelm Greis bei Golem unter Bezug auf einen Artikel der Financial Times. Suchanfragen sollen jetzt nicht mehr nur bei europäischen, sondern bei allen Google-Versionen gelöscht werden. Außerdem soll Google die betroffenen Medien nicht mehr informieren: "Bislang blendet der Konzern die Anfragen nur auf den europäischen Unterseiten wie google.de oder google.fr aus. Allerdings lässt sich über die Eingabe von google.com und einem weiteren Mausklick auf eine Version wechseln, die die Suchanfragen ungefiltert anzeigt. Falls Google dies per IP-Abfrage unterbinden würde, könnte dies mit Anonymisierungstools wie Tor ebenfalls umgangen werden."

Martin Weigert kommentiert dazu auf Netzwertig: "Aus Sicht von Privatsphäre-Advokaten ist das freilich nur konsequent. Für das Internet und den freien Zugang zu Informationen wäre eine solche Vorgehensweise aber fatal. Denn wenn sich einmal eine Praxis zur weltweiten Entfernung von Links etabliert hat, die in einem Land oder einem Nationenverbund gegen Gesetze verstoßen, dann werden auch andere Staaten diese Möglichkeit beanspruchen."

Google startet ein ambitioniertes Gesundheitsprojekt, für das der Konzern Daten von Tausenden Freiwilligen sammeln will, berichtet Rich McCormick in The Verge: "Für Project Baseline will Googles Computerkapazität nutzen, um "Biomarker" zu finden, die helfen könnten, dass die Menschen bestimmten Gesundheitsproblemen vorbeugen. Bisher hat die Medizin Biomarker für späte Stadien von Krankheiten identifiziert, aber Google hofft, dass Project Baseline Daten so analysieren kann, dass Tendenzen in unseren Körpern bekämpft werden können, bevor das Leben in Gefahr ist." Der Konzern beteuert, nicht mit Versicherungen zusammenarbeiten zu wollen.

Unabhängige Autoren, die im Rahmen des Programms "Kindle Direct Publishing Select" bei Amazon publizieren, haben keine andere Option als bei "Kindle Unlimited" mitzumachen, berichtet Bradley Babendir in MobyLives, dem Blog des Verlags Melville House. Denn sie haben bei Amazon eine Exklusivitätsklausel unterschrieben, erläutert er und zitiert den Blogger Mark Coker: "Exklusivität ist toll für Amazon, aber nicht unbedingt für Autoren und Leser. Exklusivität nimmt konkurrierenden Händlern Leser, diese werden veranlasst, zur Kindle-Plattform zu gehen. Darum ist sie ein zentraler Baustein für die Ebook-Strategie von Amazon. Es ist eine langfristige Zermürbungsstrategie."
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Geschichte

Christian Thomas schreibt in der FR über die Tage vom 28. Juli bis 3. August 1914, ein "Interregnum der Intrigen", das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. In der Welt besucht Stefan Grund die Ausstellung "Krieg und Propaganda 14/18" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg und bemerkt, dass Propaganda damals laufen lernte: "Was bereits im Zweiten Weltkrieg mit seinen verbrecherischen, mörderischen Propaganda-Schlachten etabliertes Wissen ist, wird 20 Jahre zuvor erstmals deutlich: Die Wirkung der Propaganda als Waffe ist kaum zu überschätzen. Kurator Dennis Conrad: "Im August 1914 ahnte wohl niemand, dass die schrecklichen Kampfhandlungen über vier Jahre andauern und mehr als 17 Millionen Menschenleben kosten würden. Als eine der Ursachen für die unerwartete Dauer und Intensität des Krieges wird heute die Propagandaarbeit angesehen."" Das Bild aus der Ausstellung zeigt eine deutsche Postkarte aus dem Jahr 1915.
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Gesellschaft

Sehr ausführlich sucht Marc Weitzmann (ehemals Chefredakteur der Inrockuptibles) in der Zeitschrift Tablet nach Antwort auf die Frage: "Wer ist Mehdi Nemmouche, und warum wollte er Juden ermorden?" - Nemmouche hatte im Mai im Jüdischen Museum von Brüssel einige Besucher erschossen. "Die Festnahme des in Frankreich geborenen Nemmouche am 30. Mai stoppte die Verwirrung nicht. Viel eher legte sie die verrückte Diskrepanz zwischen weltweit wahrgenommener Tragödie und einem globalen Provinzialismus mit seinen Verschwörungstheorien offen." Tablet eröffnet mit diesem Artikel eine fünfteilige Serie über den neuen Antisemitismus in Frankreich.
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Medien

Stefan Niggemeier hat ja gestern einen tollen Artikel über die Fähigkeit des Spiegel zur Selbstreflexion (leider nicht vorhanden) geschrieben. Nun können wir in der FAZ lesen, wie gut Presse Kritik verträgt: "Jetzt kommt"s raus: Die Presse gefährdet die Demokratie!", schnauft Michael Hanfeld im FAZ.Net: "Bei Maybrit Illner war Christian Wulff zu Gast. Der ehemalige Bundespräsident erklärte, warum er gestürzt wurde. Und von wem. Demnach gibt es eine große Verschwörung in diesem Land. Nur gut, dass wir im ZDF endlich davon erfahren."
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Kulturpolitik


Bild: Tate Modern, Visualisierung PD

Ob Design Museum, Tate Modern und Tate Britain oder das Victoria and Albert Museum: In Londons Museen wird großzügig investiert, schreibt Marion Löhnhof in der NZZ. Das Ergebnis sind noch monumentalere Bauten links und rechts der Themse aber auch ein bedrohlicher Museums-oder Kultur-Zentralismus:"Die Studie "Rebalancing Our Cultural Capital" belegt, dass rund 15 Prozent der Briten in London leben und dass den kulturellen Institutionen der Stadt im Jahr 2012/13 gut 320 Millionen Pfund an Fördergeldern zukamen, was einem Durchschnitt von 20 Pfund pro Londoner entspricht. Im Rest des Landes dagegen sind es nur 3 Pfund 60 pro Kopf. Dass London das Juwel in der Krone bleiben soll, ist in Großbritannien unbestritten."
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Überwachung

Durch eine geleakte Version der "Watchlist Guidance" erfährt Jörg Häntzschel in der SZ, wie man auf eine der umstrittenen Listen, etwa die No-Fly-List, die einen bei der Einreise in die USA als Terrorverdächtigen einstuft, gelangt. Nicht nur der begründete Verdacht reicht, sondern das Regularium "erlaubt es auch, Personen, für die sich nicht genug "schädliche Informationen" finden lassen, wegen eines "möglichen Nexus" zum Terrorismus als Verdächtige zu führen. Man kann aufgrund seiner Nähe zu einer angeblichen Terrorgruppe auf die Liste geraten, selbst wenn die amerikanische Regierung diese nicht für eine Terrororganisation hält. Und man kann als "Repräsentant" einer Terrororganisation betrachtet werden, auch wenn "weder Mitgliedschaft noch Nähe zu der Organisation" bestehen. Irrwitziger hätte es auch Kafka sich nicht ausdenken können". (Mehr zu den Listen bei Zeit online)

Constanze Kurz schaut in der FAZ besorgt auf das sogenannte "Canvas Fingerprinting" - eine Funktion, aggressiver noch als Cookies, mit der ein bestimmter Webbrowser die User-Tätigkeit aufzeichnet und einen "individuellen Computer" erstellt, um angepasste Werbung auszuliefern. Zugleich registriert Kurz immer mehr öffentlichen Widerstand: "Unisono und in vielen Sprachen wurde in den Kommentaren on- und offline ein Unterton deutlich: Dies ist nicht das Internet, wie wir es wollen. (...) Die Nutzer sind offenbar immer weniger bereit, ausgeforscht und verfolgt zu werden von einer Online-Werbeindustrie, die zunehmend Probleme hat, ihre Versprechen zur angeblichen Effizienz der Werbemaßnahmen einerseits und andererseits der Harmlosigkeit gezielter Werbung einzulösen." (Mehr dazu bei Spon und Heise)
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