9punkt - Die Debattenrundschau

Alles, was weich und putzig ist

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2014. In der NZZ spricht Gilles Kepel über die paradoxen Folgen der sozialen Ausgrenzung in Frankreich. In der FAZ erinnert Stefan Chwin an den Warschauer Aufstand. In der taz spricht Wole Soyinka über Boko Haram. Slate.fr möchte nicht 18 Euro für drei gegrillte Gemüse bezahlen! Scheitert das "Game of Thrones" an seinem Erfolg? Und haben Europäer auch in Amerika ein Recht auf Vergessen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.07.2014 finden Sie hier

Politik

Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka erhebt in einem sehr lesenswerten Interview mit Jürgen Wertheimer in der taz schwere Vorwürfe gegen Nigerias Politiker, die lange Zeit nichts gegen den Terror der Boko Haram unternommen haben: "Das radikalislamische Netzwerk ist eine Realität, eine Bedrohung für den gesamten afrikanischen Kontinent, aber die Sprache der Political Correctness hat es vermocht, die Tatsachen zu verschleiern, und dadurch verhindert, dass man rechtzeitig Maßnahmen ergreifen konnte, um die moderne afrikanische Gesellschaft vor solchen Übergriffen zu schützen. Parallel dazu haben es muslimische Autoritäten lange versäumt, extreme religiöse Kräfte in ihren Einflusszonen klar zu benennen und zu verurteilen... Jetzt sind sie schließlich aufgewacht und sehen entsetzt dem Blutrausch der Boko-Haram-Leute zu. Hoffentlich nicht zu spät!"

Johannes Boie und Tim Neshitov stellen in der SZ einige der derzeit kursierenden Falschmeldungen von der Propagandafront richtig: Russland hat die Farbkombination Blau-Gelb nicht verboten, und Israel schminkt seinen Soldatinnen keine blutige Wunden ins Gesicht: "Im Nahost-Konflikt wiederum haben gefälschte Bilder Tradition, sie sind jedoch traditionell ein Mittel der palästinensischen Seite. Auch in der jüngsten Eskalation kamen wieder gefälschte Bilder in Umlauf, die angebliche Opfer in Gaza zeigen sollten, tatsächlich aber furchtbare Aufnahmen aus Syrien zeigten."

Henryk M. Broder findet in der Welt in einem Artikel zum Schwall der Äußerungen über die jüngsten Ereignisse eine neue Definition für den Begriff des Antisemitismus: "Wer Juden etwas übel nimmt, das er Nichtjuden nicht übel nimmt, ist ein Antisemit."
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Medien

(via turi2) Zwei mal Der Spiegel. Wolfgang Michal weist in seinem Blog darauf hin, wie ein Redakteur des Spiegel anbot, den niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister, über den er ein kleines Dokument hatte, zu schonen, falls er Informationen über Christian Wulff herausrückt (Wulff macht in seinem Buch darauf aufmerksam). Und Roland Pimpl berichtet in Horizont.net, dass offenbar sämtliche Ressortleiter des Print-Spiegel gegen den Chefredakteur Wolfgang Büchner seien, der dennoch in aller Seelenruhe seine Kreise zieht.

George R.R. Martins Fantasy-Saga "Game of Thrones" artet ins Monströse aus und bringt HBO sowie den Autor in echten Produktionsstress, berichtet Michael Bodmer in der NZZ: "In Westeros vergeht viel weniger erzählte Zeit, als Martin fürs Schreiben braucht; der Autor hat alle Hände voll damit zu tun, die wuchernden Handlungsstränge immer wieder plausibel miteinander zu verknüpfen. HBO wiederum produziert zwar schneller als Martin (und droht mit der Serie die Romane einzuholen), doch im Vergleich zur Handlung immer noch zu langsam: So ist etwa Maisie Williams, die Darstellerin der zu Beginn der Serie 11-jährigen Arya Stark, inzwischen 17, während ihre Figur viel weniger gealtert ist."
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Geschichte

Der polnische Autor Stefan Chwin erinnert in der FAZ an den Warschauer Aufstand vor genau siebzig Jahren und die dunkle Romantik, die sich für ihn damit verband: "Was konnte ich dafür, dass der kollektive Tod der polnischen Jugend in einem wahnsinnigen Aufstand hundertmal schöner war als das vernünftige Optieren für das Leben, obwohl an so einem Tod überhaupt nichts Sinnvolles war - nur eine Menge Asche, Schmutz, Blut und Gestank des aus den Wunden fließenden Eiters?"

Der Historiker Gregor Schöllgen gerät in der SZ über die Unverschämtheit der Amerikaner, Deutschland zu besetzen, in patriotische Wallung: "Solange die Deutschen in der Rolle des Mündels verharren, haben die Amerikaner keine Veranlassung ihre Besatzermentalität abzulegen. Umgekehrt spricht einiges dafür, dass ein mit angemessenem Selbstbewusstsein auftretender deutscher Partner auch für die USA die attraktivere Alternative ist. Für die Nachbarn, die laut über eine europäische Führungsrolle Deutschlands nachdenken, gilt das ohnehin."
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Europa

Der Sozialwissenschaftler und Islam-Experte Gilles Kepel spricht im NZZ-Interview mit Beat Stauffer über die Situation in den französischen Vorstädten, wo die jungen Maghrebiner endlich anfangen, sich auch politisch zu engagieren. Mitunter allerdings auch für den Front national: "Alles weist darauf hin, dass anlässlich der Diskussionen über die Homo-Ehe eine Barriere gefallen ist zwischen der extremen Rechten und einer bestimmten Anzahl von jungen Menschen mit maghrebinischen Wurzeln. Das ist erstaunlich, weil Marine Le Pen ständig vom Kampf gegen die Islamisierung Frankreichs spricht. Ich habe den Eindruck, dass die Ausgrenzung etwas ist, worunter sowohl junge autochthone Franzosen wie auch junge Menschen mit Migrationshintergrund leiden."
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Gesellschaft

In der taz attackiert Elmar Kraushaar gewohnt angriffslustig die Entpolitisierung der Schwulenbewegung: "So wird aus Protest eine Frage des Anstands, und Homosexuellenfeindlichkeit kommt über einen wie ein Hagelsturm. Kein Wort über den Sexismus, der das eine mitbedingt, den Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit, den Antisemitismus. Homosexuellenfeindlichkeit in der neuen Lesart ist ein singuläres Phänomen, das alles andere überstrahlt. Und ist böse, böse, böse."

Zwei amerikanische Journalisten haben gerade mal wieder die französische Gastronomie in die Tonne getreten (nämlich Mark Bittman in der New York Times, hier, und Nicholas Farrell in Newsweek, hier). Das tut weh. Aber Mélissa Bounoua kann in slate.fr letztlich nur zustimmen: "Und wenn doch mal etwas anderes als die übliche Auftauware angeboten und mit lokalen Zutaten gekocht wird, dann steigen die Preise sehr schnell, und ein Mozzarella mit drei gegrillten Gemüsen kostet 18 Euro (in Paris zahlt man eben auch die Mieten der Restaurants)."
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Überwachung

Die mangelnde demokratische Kontrolle der Geheimdienste bringt Journalisten auch in ihrer täglichen Arbeit in Bedrängnis. Das ist eine Erkenntnis aus einer Studie der Human Rights Watch, die Elisabeth Pohl in Netzpolitik liest: "Um Quellen zu schützen und ihrer Arbeit nachzugehen verhalten sich Journalisten immer häufiger, als wären sie Spione - und können leichter in den Verdacht geraten, welche zu sein. Ein bekannter Journalist fasst zusammen: "Ich will nicht dass die Regierung mich zwingt, mich wie ein Spion zu verhalten. Ich bin kein Spion, ich bin ein Journalist."" Hier die Studie als pdf-Dokument.
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Internet

David Pachali geht in einem interessanten Hintergrundstück für irights.info der Frage nach, ob europäische Datenschützer fordern können, dass Google das europäische "Recht auf Vergessen" tatsächlich auch im amerikanischen Google (google.com) verwirklicht. Bei einem Sprecher der Bundesdatenschutzbeauftragten Andrea Voßhoff, den Pachali befragt, hört sich das so an: Laut Pachali "wäre das tatsächlich eine Nachricht: Auch US-Nutzer etwa von google.com wären von der Rechtsprechung des EuGH betroffen und bekämen keine Ergebnisse angezeigt."

Apple hat das Start-Up Booklamp gekauft und will damit Amazon Konkurrenz machen. Danny Crichton erläutert in Techcrunch, wie das gehen soll: "Das Ziel von Booklamp mit seinem Book Genome Project ist es, jede einzelne Zeile eines Buchs durch seine Algorithmen nach verschiedenen Kriterien zu kategorisieren, vom sexuallem Inhalt bis hin bestimmten Themen und Motiven eines Autors. Und sobald all diese Daten angehäuft und analysiert sind, dient der Algorithmus dazu, dem Leser ein richtig nettes Buch zu empfehlen." Amazon versucht, seine Kindle-Daten ähnlich zu nutzen.

Und dis hier ist Lechal, ein Schuh mit Bluetooth, der sich mit Google Maps verbindet, erfunden von einem indischen Start-Up. Sarah Buhr erklärt in Techcrunch, was der alles kann.



Evgeny Morozov führt in der FAZ den Begriff der "Überwachungsdividende" ein, womit er den Schulterschluss von Internetkonzernen mit Diskursen der Political Correctness meint, die zur Überwachung etwa der Essgewohnheiten von Individuen per Handy-App führen: "Noch beunruhigender ist der Umstand, dass die Probleme, zu deren Lösung die Überwachungsdividende beizutragen vermag (Klimawandel, Übergewicht, Armut), zunehmend in die Sprache der nationalen Sicherheit übersetzt werden, und wenn dieser rhetorische Schritt einmal getan ist, akzeptiert die verängstigte Öffentlichkeit selbst drastischste Maßnahmen."

Außerdem: In der FAZ unterhält sich Andreas Platthaus mit Daniel Kampa, früher bei Diogenes, heute Verleger von Hoffmann und Campe, über Amazon und die folgen.
Archiv: Internet

Weiteres

Wenn Sie dem Stofftier Ihrer Kinder mal was Gutes tun wollen, hat Andrea Köhler genau das Richtige für Sie: "So organisiert die Agentur Unagi Travel für alles, was weich und putzig ist, Stadtfahrten und Tempel-Besichtigungen, Gourmet-Genuss und Spa-Besuche und schickt via Twitter und Facebook täglich Bilder von Teddys Reiseeindrücken ins Haus."
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