9punkt - Die Debattenrundschau

Küken, die in eine Richtung gucken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2014. In der Welt stürmt der ukrainische Autor Taras Prochasko durch die drei Europas. Die FAZ fragt, welchen Begriff China eigentlich von seiner Kultur hat, die es dem Westen so gern entgegensetzt. In der SZ beschriebt Elif Shafak die Türkei als ein in geistige Ghettos zerfallendes Land. Der Berliner Zeitung kommt die bitte Erkenntnis: Muslimische Terrorgruppen terrorisieren in erster Linie die Muslime. Im Tagesspiegel fürchtet Priya Basil, ihr ultimatives Passwort zu verlieren. Und Zeit Online fragt: Ist das Internet das neue Somalia?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.08.2014 finden Sie hier

Geschichte

In Essay in der Welt schreibt der ukrainische Schriftsteller Taras Prochasko so bitter wie gefühlsbeladen, dass Europa seit einem Kosakensturm von 1645 ein dreigeteilter Kontinent geblieben ist. Westeuropa gilt ihm als erstes, Osteuropa als zweites, die Ukraine aber als drittes Europa: "Unsere europäische Geschichte ist die Geschichte eines Opferlamms, eines Holzschilds. Das erste Europa hat uns großgezogen, um uns den russischen Dämonen als Opfer darzubringen. Das zweite Europa, das selbst den Atem des Drachen zu spüren bekommen hatte, hat uns als Schutzschild benutzt. Hin und wieder, wenn der Schild versengt war, hat man ihn weggeworfen. Wenn man heute unsere Friedhöfe und Ruinen betrachtet und dazu die Berichte westeuropäischer Journalisten über unser wildes Land liest, kann man sich lebhaft vorstellen, wie es in den Amtsstuben Europas zugeht, in denen heute über die Zukunft der Ukraine entschieden wird. "Noch zu früh", heißt es dort, "der Zeitpunkt ist vorüber", "nie ist dafür die richtige Zeit"."

In seiner Serie zum Ersten Weltkrieg kommt Christian Thomas heute im letzten Teil zum Friedensvertrag von Versailles, der Deutschland mit der Alleinschuld" eine schwere Hypothek auferlegte und zum "schroffen Monument einer arroganten Siegermentalität" wurde.
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Gesellschaft

Amin Farzanefar stellt in der NZZ den Drohungen türkischer Nationalisten gegen Fatih Akins Armenien-Film "Cut" das große Aufklärungsinteresse der Bevölkerung gegenübersteht: "Tatsächlich ist in der türkischen Zivilgesellschaft ein Prozess der Geschichtsaufarbeitung im Gange. Akademische Werke zum Thema führen offen den Terminus Völkermord im Titel, Fethiye Cetins Erinnerungen "Die Großmutter" (2004) über eine verschwiegene Leidensgeschichte lösten eine Flut von Bekenntnisschreiben und Leserbriefen aus. Derzeit befassen sich immer mehr Dokumentarfilme mit den Folgen der Vernichtung armenischer Kultur in der Türkei."

Im SZ-Interview mit Tim Neshitov sieht die Schriftstellerin Elif Shafak die Lage in der Türkei vor der Präsidentschaftswahl ein bisschen düsterer. Die Menschen seien eingeschüchtert von den Nationalisten und das Land überhaupt sehr zerrissen: "Die Türkei ist polarisiert wie nie zuvor. Wir leben nur noch in geistigen Gettos, hinter Mauern aus Glas. Die Kluft zwischen Anhängern und Gegnern der AKP ist so breit geworden, dass kaum jemand versucht, sie zu überbrücken. Uns halten zwei Sachen zusammen: Kunst und Fußball."
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Politik

Die im Irak von der Terrortruppe IS verfolgten Jesiden haben für heute eine Demonstration in Bielefeld geplant. Arno Widmann erinnern in der Berliner Zeitung die Proteste daran, "dass im Fokus des internationalen Terrorismus nicht etwa die USA und der Westen stehen, sondern unterdrückte Minderheiten überall in der islamischen Welt. Auch das ist noch viel zu freundlich, also falsch formuliert. Die muslimischen Terrorgruppen terrorisieren in erster Linie die Muslime."

Nichts gegen Engländer, aber Tories sollten sich in nächster Zeit besser nicht in Schottland sehen lassen, schreibt Christian Zaschke in der SZ vor dem Unabhähigkeitsreferendum: "Die Konservativen versuchen, in der Debatte möglichst nicht in Erscheinung zu treten, aus Sorge, sie könnten die unentschlossenen schottischen Wähler vergraulen."
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Kulturpolitik

Peking stellt die chinesische Kultur gern der westlichen entgegen, doch eigentlich hält es seine Kultur nur für ein Vehikel der politischen Schwadronage, meint Mark Siemons in der FAZ: "Das chinesische Publikum scheint gar nichts anderes zu erwarten. Als vor kurzem ein traditioneller Tuschemaler mit langem weißem Haar vor Pekinger Journalisten über das Wesen der chinesischen Malerei sprechen sollte, wusste er noch bei dem unschuldigsten Bildmotiv eine politische Symbolik zu benennen: bei Küken etwa, die in eine Richtung gucken, die Einheit des Mutterlands; bei einer Flusslandschaft deren Wohlstand... Darauf gab es keine erstaunte Nachfrage; es wurde allgemein vorausgesetzt, dass "Kultur" einfach der Name für eine "Black Box" ist, die mit allen beliebigen politischen Botschaften gefüllt werden kann. In Wirklichkeit weicht das offizielle China nicht nur den westlichen Kulturen aus, sondern auch seiner eigenen."
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Internet

Auf Zeit Online berichtet Patrick Beuth von der Hackerkonferenz Black Hat in Las Vegas, wo eine bange Frage die Runde machte: Ist das Internet ein Failed State, ein digitales Somalia? "Dan Geer, ein Pionier des Risikomanagements und Vordenker der Branche, hat es in seiner Keynote ähnlich ausgedrückt: Die Werkzeuge der Stunde seien Angriffswerkzeuge, sagte er. Und Jeff Moss, der Begründer und Organisator der Konferenz, sagt im Gespräch mit Zeit Online: "Die Angreifer sind so dermaßen überlegen, dass wir ein Gefühl von Hilflosigkeit entwickelt haben." Die Angreifer, von denen alle, Healey, Geer und Moss, sprechen, sind Kriminelle, aber auch Regierungen."

Warum brechen wir eigentlich aus schlechten Beziehungen so selten aus?, fragt die britische Autorin Priya Basil im Tagesspiegel angesichts des destruktiven Verhältnis von Datenschutz und Internet: "Wir haben bereits in Kauf genommen, dass unsere Iris als Identifikationsmerkmal benutzt wird. Werden wir Unternehmen auch unsere Herzen zur Verfügung stellen? Der Herzschlag jedes Einzelnen ist unverwechselbar. Eine Firma namens Nymi bietet bereits an, ihn als ultimatives Password für alle digitalen Geräte einzusetzen."
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Medien

In der taz berichtet Paul Wrusch, dass auch die schwulen Magazine den Medienwandel zu spüren bekommen. Gerade ist die letzte Ausgabe von Deutschland ältestem Schwulenmagazin Du&Ich erschienen. Stefan Niggemeier berichtet in der FAZ, dass auch der NDR für seine Ranking-Shows die Umfragen manipuliert hat. Dabei ging es um die spannendsten Seen oder die schönste Gärten Norddeutschlands.
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Stichwörter: Medienwandel, NDR, Norddeutschland