9punkt - Die Debattenrundschau

Ich fordere Intelligenz!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2014. Im Tagesspiegel lernt Timothy Snyder Putin mit Orwell verstehen. Juri Andruchowytsch, Eva und Jens Reich, Karl Schlögel und andere Autoren richten einen Aufruf an die europäische Zivilgesellschaft, die Ukrainer nicht im Stich zu lassen. Die Briten blicken inzwischen doch betreten nach Rotherham, meldet die NZZ. In der taz hofft der syrische Intellektuelle Kamal Allabwani auf eine Säkularisierung Syriens - mit Hilfe Israels. Die Schweiz zeigt Mut und prüft, ob Snowden einreisen darf, meldet Netzpolitik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.09.2014 finden Sie hier

Politik




(Vad Levins Panorama der Golan-Höhen ist unter CC-Lizenz bei Flickr publiziert.)

Die jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt zeigen, dass "islamistische Organisationen nur zerstören können", erklärt der syrische Intellektuelle Kamal Allabwani im Interview mit der taz. Er fordert eine Säkularisierung der syrischen Gesellschaft und hofft dabei auf die Hilfe von - Israel: "Mein dringendster Wunsch ist, dass Israel eine klare Haltung zu den Massakern in Syrien einnimmt. Das könnte die weit verbreitete Vorstellung vieler Syrer widerlegen, dass Israel Assad unterstützt. Das Feldlazarett auf dem Golan ist ein gutes Beispiel dafür, dass dem nicht so ist. Solche kleinen Schritte können helfen, die Tür für eine Kooperation zu öffnen. Israel könnte an dem großen Projekt für Frieden und Stabilität in der Region mitarbeiten, und das wäre großartig."

Einen regelrechten Zornausbruch hat Bernard Schalscha in Bernard-Henri Lévys Blog La Règle du Jeu gegen die Palästina-Solidarität von Journalisten und Intellektuellen, die sich einen Dreck für Bosnien, Tschetschenien, Darfur oder Syrien interessiert haben - alles Länder, in denen sich BHL für verfolgte Muslime einsetzte, die aber - wie jüngst im franzöischen Fernsehen - BHL fragen, was er als Jude über die Israels Einsatz in Gaza denke. "Arme Palästinenser. Es muss hart sein, von Heuchlern unterstützt zu werden. Es muss schlimm sein, Solidarität von Leuten auszulösen, denen die krassesten Verbrechen gegen die Menschlichkeit schnuppe sind, die aber jedes Mal Morgenluft wittern, wenn man Juden verantwortlich machen kann. Und wenn es nur mit Posts auf Facebook ist. Oder indem man gegen Bernard-Henri Lévy hetzt."

In der Welt lässt sich Marko Martin von seinen linksliberalen Freunden in Israel erklären, warum sie ihre Regierung kritischer sehen, als er selbst: "Worum wir uns im Inneren schlagen, ist die Bewahrung der israelischen Liberalität. Außerdem erwarte ich von meiner Regierung, dass sie smart ist: Verhandeln, Drohen, Zuckerbrot und Peitsche, aber keine toten Kinder, sondern endlich Unterstützung für Palästinenserpräsident Abbas anstatt immer neuer Siedlungen. Ich fordere Intelligenz!"
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Medien

Wird Felicitas von Lovenberg FAZ-Herausgeberin? Turi2 bezieht sich auf einen - allerdings etwas unbelegten - Bericht der stets bestens informierten Ulrike Simon in der Berliner Zeitung. Simon hält fest, dass Lovenberg auch als Buchautorin qualifiziert ist: "Zuletzt schrieb die zum zweiten Mal Verheiratete "Und plötzlich war ich zu sechst. Aus dem Leben einer ganz normalen Patchwork-Familie". Bis Jahresende befindet sich von Lovenberg in Elternzeit. Solange ist Günther Nonnenmacher ohnehin Schirrmachers kommissarischer Nachfolger."
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Internet

Mal wieder ein Artikel über die Start-Up-Szene in Berlin. Diesmal schreibt ihn Samantha Murphy Kelly für Mashable - und sie benennt neben den vielen Vorteilen auch den Nachteil von Berlin: "Einige Startups hatten in Berlin zwar Erfolg, aber sehr viele müssen kämpfen, um ihr Unternehmen auf die nächste Stufe zu bringen" - wegen ängstlicher Investoren.

Weiteres: In der FAZ fordert der Datenanalytiker Markus Morgenroth eine Ethik für Informatiker im Hinblick auf Big Data, Überwachung und Datenschutz.
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Europa

Der Tagesspiegel übersetzt einen Text Timothy Snyders aus Politico (hier das Original), in dem er Orwell liest, um die Ukraine-Krise zu verstehen. Das geht besser als erwartet. Zum Beispiel kennen sowohl Orwell als auch Putin ein Reich namens "Eurasien": "In Orwells Dystopie ist Eurasien ein repressiver, kriegerischer Staat, der "den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse, von Portugal bis zur Beringstraße" umfasst. In der russischen Außenpolitik ist Eurasien ein Plan für die Integration von allen Länder von - Sie haben es erraten - Portugal bis zur Beringstraße. Orwells Eurasien praktiziert einen "Neo-Bolschewismus". Russlands führender Eurasien-Theoretiker nannte sich einmal selbst einen "nationalen Bolschewiken"."

Juri Andruchowytsch, Eva und Jens Reich, Karl Schlögel und andere Autoren richten einen Aufruf an die Bundesregierung (den etwa die FAZ nur mit spitzen Fingern erwähnt, statt ihn mal zu dokumentieren): "Nicht nur die Regierungen sind gefragt: Dies ist auch ein Weckruf an die europäische Zivilgesellschaft. Wir appellieren deshalb zugleich an die demokratische Öffentlichkeit, sich mit den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine zu solidarisieren. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der europäische Aufbruch der Ukraine mit Gewalt erstickt wird."
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Gesellschaft

In England wird spät, aber jetzt doch noch, darüber diskutiert, warum der Missbrauchsskandal in Rotherham, dem Hunderte junger Mädchen zum Opfer fielen, so lange beschwiegen wurde, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ. War es Angst vor Rassismusvorwürfen? Klassenvorurteile? Sexismus? Löhndorf zitiert Suzanne Moore, die im Guardian kein ethnisches Problem diagnostiziert, sondern ein männliches: "Die Missbrauchsopfer, von den Tätern als "white trash" gehandelt, seien vornehmlich Kinder aus der Unterschicht oder in staatlicher Fürsorge gewesen. (Zugleich unterschlägt sie nicht, dass auch asiatische Mädchen Missbrauchsopfer wurden.) Auch seitens der Behörden seien die Kinder als wertlos und "unerwünscht" bezeichnet worden: "Es ist, als stimmten alle überein darüber, wer wertlos sei und wer nicht; wer gerettet werden könne und wer nicht.""

Außerdem: In der taz skizziert Aram Lintzel Strategien zur Distanzierung vom heimlichen Spießerbegehren bei Anblick der Schweiz.
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Religion

Christian Jakob besucht für die taz Mitglieder der jesidischen Gemeinde in Osterholz-Scharmbeck nahe Bremen. Viele sind nach Deutschland ausgewandert, weil sie sich vor einer Zwangsislamisierung in ihrer Heimat fürchteten. Auch in Deutschland, glaubt die Jesidin Ceylan Guli, "gehe "der Trend zur Islamisierung": Immer mehr Mädchen tragen Kopftuch. "Mich sehen sie im Supermarkt schon komisch an, weil ich orientalisch aussehe, aber kein Kopftuch trage." Muslime würden sie als "Teufelsanbeter" beschimpfen oder "spotten, dass wir einen Pfau anbeten". Jungen Männern mit langem Bart geht Guli aus dem Weg. Vor wenigen Wochen haben islamistische Jugendliche in Herford eine Gruppe von Jesiden überfallen."

In der taz fragt Deniz Yücel, was die Aufregung um die Salafisten-Polizei in Wuppertal soll. Sowas gibt"s doch schon lange: "Kreuzberg etwa. Als in den siebziger Jahren hier wie anderswo im Lande die ersten türkischen Lebensmittelgeschäfte eröffneten, führten die im Sortiment all das, was in deutschen Supermärkten damals nicht zu haben war: Zucchini, Oliven und Raki, den türkischen Nationalschnaps. ... Raki steht heute auch bei Kaiser"s im Regal. In den klassischen türkischen Lebensmittelgeschäften aber, die bemerkenswerterweise dem Sterben des Einzelhandels trotzen, sucht man vergebens danach."
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Geschichte

Ronald D. Gerste berichtet in der NZZ von einem Besuch einer Ausstellung in der National Portrait Gallery in Washington, die die Generäle Robert E. Lee und Ulysses S. Grant als Pioniere des modernen Kriegs zeigt. (Bild: Lee Surrendering to Grant at Appomattox / Alonzo Chappel, c. 1870)
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Überwachung

Kommt es zu einer überraschenden Lösung für Edward Snowden? Die Schweiz prüft die mögliche Einreise des Whistleblowers, berichtet Anna Biselli in Netzpolitik unter Bezug auf ein von der Sonntagszeitung präsentiertes Papier der Bundesanwaltschaft: "Das Dokument kommt zu dem Schluss, dass freies Geleit für Snowden möglich sei, wenn nicht "höherrangige staatliche Verpflichtungen" dazwischen kämen, deren Prüfung noch ausstehe. Politiker und Juristen zeigen sich von der Einschätzung der Bundesanwaltschaft erfreut, da man damit einer Befragung Snowden einen Schritt näher komme. Der Nationalrat der konservativen SVP Luzi Stamm sagt dazu: "Wir müssen jetzt vorwärtsmachen, sodass Snowden baldmöglichst als Zeuge in die Schweiz reisen kann.""

Außerdem auf Netzpolitik: Thilo Weichert, der noch amtierende Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, hat eine Analyse zu den Auswirkungen des geplanten transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP auf den Datenschutz veröffentlicht mit der Forderung: "Entweder die USA erkennen den europäischen digitalen Grundrechtsschutz an, oder es kann insofern keinen transatlantischen Freihandel geben."
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Weiteres

In der FAZ fragt Hannah Lühmann: "Tragen die Propagandabilder aus dem Konzentrationslager Theresienstadt geheime Botschaften derer, die gezwungen wurden, diese Fotos zu machen?" In der SZ denkt Thomas Steinfeld über die Selbsinszenierung europäischer Kulturhauptstädte wie Istanbul, Venedig und Wien nach. Lesen.net meldet, dass Randomhouse künftig auf harten Kopierschutz bei Ebooks verzichtet.
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