9punkt - Die Debattenrundschau

Versicherungspolice für ein besseres Leben

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2014. Für Google wird's in Europa enger. Leicht gereizt antwortet der Konzern unter dem Titel "Dear Rupert" auf einen offenen Brief von Rupert Murdochs News Corp. an die EU, der behauptet, dass Google die Meinungsfreiheit gefährde. EU-Kommissar Günther Oettinger verspricht laut Spiegel Online schärfere Maßnahmen gegen den Konzern. In Frankreich schreiben Muslime nach dem Mord an Hervé Gourdel: "Auch wir sind dreckige Franzosen". In der FR spricht die Osteuropahistorikerin Marci Shore über das Ende des Kommunismus. Und ist Veganismus weiblich?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.09.2014 finden Sie hier

Internet

Der neue EU-Digitalkommissar Günther Oettinger will Googles Marktmacht schärfer als bisher begrenzen, berichten Christoph Pauly und Gregor Peter Schmitz in Spiegel Online. Oettinger reagiert damit auf Druck von Google-Konkurrenten, die sich vor den Europa-Wahlen stark positioniert hatten. Gegenüber Wettbewerbskommissar Joaquin Almunia scheint er eine Google-kritischere Linie zu verfolgen: "Oettinger hatte sich maßgeblich in die Google-Debatte eingebracht, als Almunia im Frühjahr eine eher moderate Einigung mit dem Internetkonzern durchboxen wollte... Ihn stört besonders, dass Google aus seiner Sicht den kleineren Mittelständlern im Internet das Leben schwer macht, wenn die Kalifornier für sich einen neuen Markt entdeckt haben und alle anderen mit ihrer Marktmacht an die Wand drücken." In dem Artikel wird auch auf ein 30-seitigiges Papier des Bundeskartellamts verwiesen, das auf Initiative Sigmar Gabriels über das gleiche Thema räsonniert.

Zu den prominenten Google-Gegnern gehört neben Mathias Döpfner, der vor den Europawahlen in Frank Schirrmachers FAZ-Feuilleton seine "Angst vor Google" bekannte, Rupert Murdoch. Robert Thomson, Chef von Murdochs News Corp., hatte vor einigen Tagen einen offenen Brief an den europäischen Wettbewerbskommissar adressiert, in dem er das ganz große Fass aufmachte: "Es besteht kein Zweifel, dass dieser Fall von tiefer Bedeutung für viele Medienkonzerne in Europa, aber auch für die europäische Bevölkerung ist, deren unabhängiger Zugang zu Informationen durch die überwältigende Macht von Google gefährdet ist."

(Via The Next Web) Auf diesen Brief hat nun Google auf seinen eigenen Seiten mit einem Brief an "Dear Rupert" geantwortet - und wiederholt altbekannte Argumente: "Google hat hart gearbeitet, um Verlegern zu Online-Erfolg zu verhelfen und ihre Digitaleinkünfte zu erhöhen."

Wolfgang Blau vom Guardian twittert dazu:

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Religion

In Frankreich werden die Fahnen heute auf Halbmast gesetzt - der Mord an Hervé Gourdel erinnert an die Zeit der islamistischen Attentate in Paris in den neunziger Jahren. Unter der Überschrift "Auch wir sind dreckige Franzosen" bekennt eine Gruppe prominenter muslimischer Franzosen im Figaro ihren Abscheu vor dem Mord an dem Bergführer, der von algerischen IS-Sympathisanten für ein Snuff Video geköpft wurde: "Wir bestreiten diesen Bestien das Recht, sich auf den Islam zu berufen und in unserem Namen zu sprechen. Die Qualen und der Tod, den sie unseren christlichen, jesidischen und muslimischen Brüdern in Syrien, Irak, Nigeria und anderswo auferlegt haben, stoßen uns ab. Zu unserem Unglück können wir hier nur unsere Solidarität und unser immenses Mitgefühl bekennen."

Matthias Heine mokiert sich in der Welt über die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi, die sich dagegen ausgesprochen hat, den "Islamischen Staat" als "islamisch oder radikal-islamisch" zu bezeichnen. Man rücke ja auch "strenggläubige Katholiken" nicht in die Nähe des Terrorismus: "Man könnte ihr antworten, dass es eben zurzeit auch relativ wenig katholische Terroristen gibt, die Andersgläubige und Abweichler ermorden, und dass man, als es noch welche gab - beispielsweise in Nordirland -, eigentlich nie Probleme damit hatte, sie als "katholische Terroristen" zu bezeichnen. Die meisten Menschen haben damals ganz gut den Unterschied zwischen einem alten Mütterchen, das in einer bayerischen Kirche betet, und einem jungen Mann, der in Belfast Bomben legt, verstanden."
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Gesellschaft


(Diese Kalb isst vegan, ist aber nicht vegan. Marji Beachs Foto "Nicholas as a young calf" haben wir unter CC-Lizenz bei Flickr gefunden.)

Christina Hucklenbroich untersucht in der FAZ den immer weiter grassierenden Veganismus: "An der Universität Hamburg entsteht gerade die erste quantitative soziologische Studie dazu. Pamela Kerschke-Risch, die das Projekt leitet, ließ 850 Veganer einen Fragebogen ausfüllen und begegnete so einer erstaunlich homogenen Gruppe: "Veganer sind eher jung, im Schnitt 32 Jahre alt, die Teilnehmer waren zu achtzig Prozent Frauen, sie hatten meistens höhere Bildungsabschlüsse. Fast neunzig Prozent leben erst seit weniger als fünf Jahren vegan. Durchweg sind sie über vegan lebende Freunde zum Veganismus gekommen.""

Ebenfalls in der FAZ berichtet Mark Siemons, dass der Konfuzianismus mit sein Unterordnungs- und Benimmregeln bei der chiensieschen Jugend nicht mehr en vogue ist.
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Politik

Um der seit Jahren sinkenden Wahlbeteiligung entgegenzuwirken, schlägt der ehemalige Berliner Wissenschaftssenator Jürgen Zöllner im Tagesspiegel die Einführung einer Wahlpflicht vor, wobei die Möglichkeit zur Enthaltung auf dem Wahlzettel ausdrücklich gegeben sein soll. Wer nicht wählt, soll für die folgende Legislaturperiode seine Zulassung zu Volksentscheiden verlieren und der Anteil der Enthaltungen soll sich als frei bleibende Sitze im jeweiligen Gremium niederschlagen. "Die Parteien und politischen Repräsentanten hätten ein erheblich stärkeres Interesse, ihr Profil zu schärfen und auf die Bürger zuzugehen, zuzuhören, zu überzeugen, um Vertrauen zu ringen und auch dann glaubwürdig zu arbeiten, wenn es um unpopuläre Entscheidungen oder Fehler geht, die dem Wähler ehrlich erklärt werden müssen. Der so eingebundene und ernst genommene Wähler wird dann dafür eher Verständnis aufbringen, denn im Grunde weiß er, dass niemand unfehlbar ist."

In der SZ berichtet Alexandra Borchardt von der Tagung "Web 2.0 - Demokratie 2.0" in Hildesheim, die sich mit dem schwierigen Verhältnis von Demokratie und Internet befasste: "Auch wenn die soziale Kontrolle im Netz vielfach funktioniert - Schreckensbilder nicht weiterverbreitet, grenzverletzende Kommentatoren zurechtgewiesen werden - gibt es so gut wie keine Möglichkeit, Terrororganisationen oder anderen zerstörerischen Kräften die Verbreitungsmacht über das Netz zu entziehen. Selbst Google ist nicht schnell genug, um die Welt vor grausamen Bildern wie Enthauptungsvideos zu schützen. Der Rechtsstaat kommt schon gar nicht hinterher."
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Geschichte

Im Interview mit Michael Hesse (FR) spricht die Osteuropahistorikerin Marci Shore über den Zusammenbruch des Kommunismus und die - auch hinsichtlich der Arabellion und der Ukraine - verbreitete Vorstellung, mit dem Sturz eines Regimes und dem Abhalten von Wahlen werde alles besser: "Als das Sowjetsystem kollabierte, war eben nicht mit einem Schlag alles vorbei. Die Menschen in den Ländern waren nicht auf einmal von allen Lasten ihres früheren Lebens entbunden und nun ausgestattet mit all dem, was man für den Wettbewerb in einer Marktgesellschaft, in einer neuen Welt benötigt - die Gesellschaft prosperierte nicht über Nacht. Viele Menschen dachten, der Eintritt in die Europäische Union sei eine Art Versicherungspolice für ein besseres Leben. Heute wissen wir, dass die EU sehr begrenzte Fähigkeiten hierbei besitzt. Sie konnte nicht einmal den Aufstieg von Jobbik in Ungarn verhindern."

Es gibt "auf diesem Feld noch reichlich Forschung zu betreiben und Erkenntnis zu gewinnen", stellt Jan Feddersen (taz) beim Deutschen Historikertag in Göttingen fest, wo unter dem Motto "Sieger und Verlierer" auch über die Geschichte des Homosexuellen gesprochen wurde: "Die Kategorie des Sexuellen spielt in der Fragematrix - sei es zur europäischen Geschichte, im aktuellen Konflikt um Russland oder eben zur NS- und frühen Bundesrepublik- und DDR-Geschichte - überhaupt keine Rolle. Sie ist wohl immer noch allzu schmutzig, allein schon wegen der Quellen, die zu bergen wären. Andererseits: Spielt das Sexuelle nicht in allen Kontexten wenigstens subtil eine stiftende oder giftende, jedenfalls tragende Rolle?"
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Medien

Ulrike Simon berichtet in der Berliner Zeitung über den neuesten Stand beim Spiegel. Die Mitarbeiter-KG ist zwar gegen Chefredakteur Wolfgang Büchner, aber noch geschieht nichts: "Für einen Gesellschafterbeschluss benötigt die KG die Unterstützung von G+J, deren Vorstandsvorsitzende Julia Jäkel Büchners Absetzung nicht abgeneigt ist. Warum die Situation schwelt, hat mehrere Gründe: Erstens fehlt ein Nachfolger, der es kann, und unter den widrigen Umständen auch will. Zweitens geht es um eine nachhaltige Lösung. Weder (Jakob) Augstein noch G+J nehmen der Redaktion ab, die Digitalisierung mitgestalten zu wollen, ist Büchner erst einmal weg."
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