9punkt - Die Debattenrundschau

In dieser Geschichte gibt es keine Großmut

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2014. In der Welt stellt Ian Buruma fest: Chinas Herrscher waren immer autoritär, aber selten so gesetzlos und korrupt wie heute. In der NZZ schildert Roberto Simanowski, wie flexibel Hongkongs Universitäten auf die Proteste reagierten. Netzpolitik fürchtet, dass die Netzneutralität dem Breitbandausbau geopfert wird. Twitter will offenlegen dürfen, wie es seine Nutzer überwachen lassen muss. In der Libération verweigert Edwy Plenel religiöse Antworten auf soziale Fragen. Die FAZ berichtet aus der Kurdenmetropole Diyarbakir.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.10.2014 finden Sie hier

Politik

Hülya Özkan-Bellut berichtet in der FAZ aus der kurdischen Metropole Diyarbakir, wo der Ausgleich zwischen Türken und Kurden durch den IS-Terror auf eine Zerreißprobe gestellt wird. Die Bürgermeisterin Gültan Kisanak hat sie knapp verpasst, sie ist nach Suruç gereist, um geflohenen Kurden aus Kobane zu helfen: "Am nächsten Tag ist im Internet zu beobachten, wie sie einen Feldwebel beschimpft, weil der noch zögert, PKK-Kämpfer aus der Türkei über die Grenze nach Syrien zu lassen. "Dein Staat hat es mir versprochen", schreit sie ihn an. Der Geist der Rebellion ist vorhanden, die alten Reflexe funktionieren noch: Der Staat ist immer noch der Unterdrücker. "Wenn das nur mein Staat ist, wenn das nur mein Land ist, was hast du dann hier zu suchen?", kontert der Feldwebel."

Laut Spiegel Online haben die USA Kobane offenbar schon aufgegeben.

Roberto Simanowski, Medienwissenschaftler an der City University in Hongkong, schildert in der NZZ, wie seine Universitätskollegen auf die Proteste der letzten Woche reagierte: Sie "schufen eine Website für Fotos vom Geschehen und zugleich für Filmmaterial von anderen Studentenstreiks (2012 in Quebec, 1968 in Paris) und Protestbewegungen (Black Power). So bringt die Unterbrechung des Universitätsbetriebes neue Formen des Unterrichts mit sich. Eine andere Anpassung an die besondere Situation: Man filmte seine Vorlesung am Computer, so dass Studenten dem Unterricht mit dem Smartphone auf der Straße folgen können. Weiter verschob man alle geplanten Wissenstests auf später, passte den Lehrstoff thematisch den aktuellen Umständen an und freute sich, wenn immer weniger Studenten zum Unterricht erschienen."

In der Welt fasst sich Ian Buruma angesichts des Pekinger Herrschaftsgebarens an den Kopf: "Aus Sicht der chinesischen Führung können nur eine straffe Kontrolle von oben und die unbestrittene Vorherrschaft der KP Chinas die für die Entwicklung eines reichen und mächtigen Chinas erforderlichen Voraussetzungen schaffen. Demokratie führt von ihrer Warte aus zu Chaos; Gedankenfreiheit führt zur "Verwirrung" der Öffentlichkeit, und die öffentliche Kritik der Partei fördert den Zusammenbruch von Autorität. In diesem Sinne ist die KPCh ziemlich traditionell eingestellt. Doch auch wenn die chinesische Regierung immer autoritär war, war sie nicht immer so korrupt wie heute. Und auch so gesetzlos war Chinas Politik nicht immer."

Um ein "Dokument der Niedertracht" handelt es sich bei dem Helmut-Kohl-Buch "Vermächtnis", stellt Stefan Reinecke in der taz bei der Vorstellung durch die die Autoren Heribert Schwan und Tilman Jens fest: "Schwan verhält sich wie ein beleidigter Lebensabschnittspartner auf Rachefeldzug. Die Interview-Tonbänder, die ein Gericht kürzlich Kohl zusprach, hat Schwan kopiert und damit sein Enthüllungsbuch munitioniert. "Kohl", sagt Schwan, "würde mir dafür auf die Schulter klopfen und sagen: Gratulation." Denn nur Schwan weiß, was Kohl wirklich will. Ist das trotzig oder unverfroren? In dieser Geschichte gibt es keine Großmut."

In der SZ-Serie zum anstehenden Mauerfall-Jubiläum besucht Christoph Neidhart das letzte Relikt des Kalten Krieges, den vier Kilometer breiten Sperrstreifen zwischen Nord- von Südkorea.
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Überwachung

(via Zeit digital) Auf seinem Firmenblog teilt Twitter mit, dass es eine Klage gegen die US-Regierung eingereicht habe, um das Ausmaß der Überwachung seiner Nutzer durch die Geheimdienste offenlegen zu können: "Wir haben uns bemüht, ohne Klage den Grad an Transparenz zu erreichen, den unsere Leser verdienen, aber vergebens. Im April haben wir dem Justizministerium und dem FBI einen Transparenzbericht vorgelegt, von dem wir uns bedeutende Aufschlüsse für unsere Nutzer versprachen. In monatelangen Diskussionen ist es uns nicht gelungen, die Behörden dazu zu bewegen, uns wenigstens eine editierte Version dieses Berichts veröffentlichen zu dürfen."
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Internet

Die Bundesregierung ist gerade dabei, die Netzneutralität dem Breitbandausbau zu opfern, warnt Markus Beckedahl auf Netzpolitk.org: "Der Taschenspielertrick dabei ist, dass man kaum Geld für den Breitbandausbau investieren will, sondern den großen Telekommunikationsunternehmen einfach weniger Netzneutralitätsregeln verspricht. Oder andersherum gesagt: Die Telekommunikationsunternehmen versprechen gerne den Breitbandausbau irgendwie selbst zu finanzieren, wenn sie dafür weniger Regeln bekommen. Klingt wie eine Win-Win-Situation, ist es aber nicht."

Auf Netzwertig.com versucht sich unterdes Alexander Lohninger einen Reim auf eine Studie der Universität Bristol (pdf) zu machen, derzufolge mehr Breitband zu einre geringeren Wahlbeteiligung führt.
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Religion

In der Liberation spricht Edwy Plenel, der Gründer von Médiapart, über sein neues Buch "Pour les musulmans", in dem er sich dagegen sperrt, für soziale Probleme religiöse Ursachen zu suchen: "Seit dreißig Jahren will man uns glauben machen, dass die Muslime - durch die Bank, egal wie sehr sie sich in Herkunft, Kultur und Glauben unterschieden - der Grund all unserer Übel sind: der Arbeitslosigkeit, der Wirtschaftskrise und der Unsicherheit in den Problemvierteln. Dieses Buch ist ein Plädoyer für Frankreich, für die Minderheiten, um zu sagen, dass wir das nicht akzeptieren. Unsere muslimischen Mitbürger sind nicht verantwortlich für die Verbrechen, die von totalitären Bewegungen begangen werden, die den Islam für sich missbrauchen."

In der NZZ informiert Joseph Croitoru über den innerhalb der israelischen Armee tobenden Kulturkampf zwischen Säkularen und Nationalreligiösen, die die gegenwärtigen Konflikte mit dem Überlebenskampf des jüdischen Volkes in biblischer Zeit verquicken und eine "Sakralisierung" der Armee vorantreiben.
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Kulturpolitik

Stefan Koldehoff berichtet in der FAZ von Fortschritten in Sachen Raubkunst, die allerdings sehr minimal ausfallen: "Fast zwei Drittel der deutschen Kunsthäuser haben ihre Bestände noch immer nicht auf NS-Raubkunst-Verdacht hin untersucht."
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Stichwörter: Raubkunst, NS-Raubkunst