9punkt - Die Debattenrundschau

Vorschnell geurteilt - typisch Internet!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2014. Im Guardian plädiert der Nordirland-Chefunterhändler Jonathan Powell für Verhandlungen mit ISIS: rein militärisch waren Terroristen noch nie zu besiegen. Dounia Bouzar beschreibt in der NZZ die Rekrutierungspraxis islamischer Extremisten. Jeff Bezos hat doch etwas vor mit der Washington Post, stellt die FAZ fest. Die SZ bemängelt die unpragmatische Gründlichkeit der Taskforce zur Untersuchung der Gurlitt-Sammlung. Überall in Deutschland werden Asylbewerberheime geschlossen oder abgerissen, berichtet die Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.10.2014 finden Sie hier

Politik

Jonathan Powell, Chefunterhändler Tony Blairs für den Friedensvertrag mit Nordirland 1997 und kein Pazifist, legt in einem langen, sehr lesenswerten Essay im Guardian die Gründe dar, warum der Westen - trotz allem - versuchen sollte mit ISIS zu verhandeln: "Wenn es um Terrorismus geht, scheinen Regierungen an einer kollektiven Amnesie zu leiden. Unsere ganze historische Erfahrung sagt uns, dass es keine rein militärische Lösung eines politischen Problems geben kann, doch jedesmal, wenn wir mit einer neuen Terrorgruppe konfrontiert werden, beharren wir darauf, nicht mit ihnen zu reden. Wie Dick Cheney schon sagte: "Wir verhandeln nicht mit dem Bösen, wir besiegen es." Tatsächlich lehrt uns die Geschichte, dass wir sie in der Regel nicht besiegen und schließlich doch mit ihnen reden. Hugh Gaitskell, der ehemalige Labourführer, beschrieb es am besten: "Alle Terroristen landen am Ende auf Einladung der Regierung bei Drinks im Dorchester.""

Nach und nach werden die Leichen der 43 vermissten mexikanischen Studenten geborgen, die wahrscheinlich zusammen von Polizei und Drogenkartellen ermordet und in Massengräbern verscharrt wurden. In The Daily Beast berichtet Jason McGahan von dem Entsetzen, mit dem das Land diese neue Qualität von Korruption und Verbrechen realisiert. Nur nicht die Politik: "Nach den Entführungen und Ermordungen hat der mutmaßlich verantwortliche Bürgermeister von Iguala, Albarca Velázquez, um dreißig Tage Urlaub gebeten. Der Stadrat hat sie ihm gewährt. Seitdem ist er abgetaucht, zusammen mit seinem Polizeichef und Cousin Felipe Flores Velazquez."

Simon Pellet-Recht fragt auf Slate.fr, ob auch Venezuela dabei ist, ein Narco-Staat zu werden, nachdem in Paris einem Flugzeug aus Caracas 1,3 Tonnen Kokain entdeckt wurden.

"Veröffentlichen muss vor Verschweigen gehen", stellt Jürn Kruse in der taz klar und wundert sich über Journalisten, die das Buch "Vermächtnis" von Heribert Schwan und Tilman Jens dafür kritisieren, dass es nicht von Helmut Kohl autorisiert ist: "Auch die Dirndl-Aussagen des früheren FDP-Fraktionschefs Rainer Brüderle gegenüber der Stern-Redakteurin Laura Himmelreich fielen einst an einer Hotelbar und waren mit Sicherheit nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sie wurden trotzdem publik. Und das war richtig so." Ganz anderer Ansicht ist Kai Schächtele in Carta: "Wir leben in einem freien Land. Jeder kann selbst darüber bestimmen, wie und wann er sich aus einer sozialen Gemeinschaft verabschiedet. Diese Entscheidung hat Heribert Schwan dem Altbundeskanzler ohne jede Legitimation abgenommen. Es ist erbärmlich."

Weitere Artikel: Anlässlich der morgigen Bekanntgabe des Friedensnobelpreises informiert Reinhard Wolff in der taz über die in Norwegen recht heftig tobende Debatte um die Kritierien für die Preisvergabe. So meint der Friedensforscher Johan Galtung: "Es gibt ein Nobelpreisschema. Den Preis bekommen Personen mit Ansichten, die mit der norwegischen Außenpolitik kompatibel sind." Und das Dossier der Zeit sucht nach Gründen für die miesen Zustände in deutschen Asylbewerberheimen und wird in der Politik fündig: "Die Regierungen von Bund und Ländern haben die Überforderung selbst herbeigeführt. Zu wenige Unterkünfte für zu viele Flüchtlinge? Überall in Deutschland wurden in den vergangengen Jahren Asylbewerberheime geschlossen oder abgerissen."
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Kulturpolitik

Die Taskforce zur Untersuchung der Sammlung Gurlitt hat ziemlich wenig vorzuweisen, kritisieren Ira Mazzoni und Jörg Häntzschel in der SZ und erkennen auf heillos unpragmatische Gründlichkeit: "Noch immer sind 70 Werke nicht identifiziert, oft steht nicht einmal der Künstler fest. In neun Monaten sind nur zwei Bilder als Raubkunst deklariert worden. Doch eines davon, Matisse" "Sitzende Frau", hatte Gurlitt schon vor seinem Tod zur Rückgabe bestimmt. Musste die Herkunft des Bildes nochmals von Neuem recherchiert werden? Bei Max Liebermanns "Zwei Reiter am Strand", dem zweiten Werk, war längst nachgewiesen, dass es sich um die Version aus dem Besitz David Friedmanns handelte."
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Internet

Auf der Medienseite der FAZ widmet sich Patrick Bahners Jeff Bezos Plänen, die Washington Post künftig über das Amazon-Lesegerät Kindle Fire als Standard-App zu verbreiten: "In den vergangenen Wochen gab es eine ganze Reihe von Artikeln, die mehr oder weniger hämisch feststellten, dass Bezos offenbar nicht wisse, was er mit seinem Spielzeug auf Zeitungspapier anfangen solle... Diese Spötter wie Dylan Byers, der Medienkolumnist von Politico, einem von abtrünnigen "Post"-Redakteuren gegründeten Internetdienst, der die Zeitung beerben will, stehen nun einigermaßen blamiert da. Vorschnell geurteilt - typisch Internet!"

In der Welt stellt Holger Heimann die Pläne des früheren BamS-Chefs Walter Mayer vor, ein Gegenprojekt zu Amazon zu entwickeln und "mit journalistischen Mittel die Atmosphäre einer guten Buchhandlung im Internet" herzustellen.

Das Arbeiten für Start-ups im Silicon Valley hat ein wenig an Glamour eingebüßt, auf Slate.com sammelt Lily Hay Newman Berichte von Leuten, die die Nase voll haben von brogrammer culture, Konformismus und leistungssteigernden Drogen: "Einer beklagte, dass man meist sehr hart für etwas arbeite, aus dem zu 98 Prozent niemals etwas wird. Ein anderer sagte es so: Du gibst alles für die Firma, und kriegst entweder den Bruchteil eines Prozents oder ein GTFO." Andere nannten den Mangel an Anerkennung, Beachtung, Vertrauen und Rückhalt, Unsicherheit und das regelmäßige Gelinktwerden von Leuten, denen man glaubte, vertrauen zu können.""
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Religion

Die französische Forscherin Dounia Bouzar erläutert im Gespräch mit Marc Zitzmann (NZZ) die Methoden, mit denen islamische Extremisten Jugendliche für den Jihad rekrutieren und indoktrinieren: "Die Stärke der Radikalen ist es, glauben zu machen, sie seien "wahre" Muslime, die die Gesetze rigoroser befolgten als die anderen. Eine Lüge: Sie sind Gurus, Mafiosi und Massenmörder, die die Schriften zynisch missbrauchen. Textstellen und Traditionen, die ihnen ins Zeug passen, picken sie heraus, abstrahieren aber den Kontext und entleeren den Sinn. Der Buchstabe treibt den Geist aus - mit Religion hat das wenig zu tun."
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Stichwörter: Gurus, Isis, Jihad

Gesellschaft

In der Zeit beschreibt Elisabeth Niejahr die Wut der Männer auf die Frauenquote und empfiehlt den Chefs von heute, "männliche Quotenhasser daran zu erinnern, dass weniger die Frauen als die Manager vergangener Jahrzehnte verantwortlich dafür sind, das viele Unternehmen jetzt Chefinnen suchen".
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Stichwörter: Frauenquote