9punkt - Die Debattenrundschau

Der Kriegszustand ist das Lebenselixier

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2014. In der Basler Zeitung schildert Michail Schischkin den Alptraum des Wladimir Putin und seine Selbsttherapie. El Pais ist sauer auf Katalonien. Die FAZ erklärt, warum der chinesische Begriff des Rechtsstaats einer des kleinen Schmerzes ist. Gebt die Ukraine nicht auf, ruft die Welt. Und, ach ja, der BND braucht mehr Geld!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.11.2014 finden Sie hier

Geschichte


Wo einst die Mauer war, sahen wir gestern Sterne. Die "99 Luftballons" hat mompl gestern unter CC-Lizenz auf flickr veröffentlicht.
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Stichwörter: Mauerfall

Europa

Katalonien hat abgestimmt, wenn auch nicht offiziell, und nun sind angeblich 80 Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit. In Madrid ist man sauer, so auch der Verfassungsrechtler Francesc de Carreras in El Pais: "Seit 1934 hat Katalonien noch nie so sehr einer Bananerepublik geglichen. Der Rechtsstaat ist verhöhnt worden. Das Spektakel hat den Rest der Welt verwirrt, Zeitungsreporter, die uns in dieser Woche besuchten, konnten nicht glauben, was sie sahen und sich keinen Reim auf die Situation machen." Die NZZ rückt die Verhältnisse mit dem Hinweis auf die Beteiligung gerade: "Etwa 1,8 von 6,2 Millionen Stimmberechtigten in Katalonien haben sich für Unabhängigkeit von Spanien ausgesprochen. Die Abstimmung war unverbindlich."

Das System Putin braucht eigentlich keine Bevölkerung, solange die Herren im Kreml nur ihre Rohstoffe verkaufen können, meint der russische Schriftsteller Michail Schischkin im Interview mit Hansjörg Müller in der Basler Zeitung. Die Unzufriedenen dürften ruhig das Land verlassen, nur bitte keinen Ärger machen: "Die schmähliche Flucht des russlandfreundlichen ukrai­nischen Präsidenten Viktor Janu­kowitsch aber war ein Alarmsignal für den Usurpator im Kreml. Wenn die Ukrainer eine solche Bande verjagen können, kann das für ihre russischen Brüder ein Beispiel sein. Deswegen kreiert Putins Regime Feinde. Das Fernsehen präsentiert den Russen ein perfektes Weltbild: Ukrainische Faschisten, die vom Westen unterstützt werden, führen Krieg gegen die "Russische Welt". Und wir müssen unsere Heimat wieder vor dem Faschismus retten. Der Kriegszustand ist das Lebenselixier des Regimes."

"Gebt die Ukraine nicht auf!", ruft Richard Herzinger in der Welt angesichts der Wahlpossen in der Ostukraine und russischer Panzer in den Separatistengebieten: "Der mächtigste Verbündete Russlands bei der Zerstückelung und der Zerstörung der Ukraine ist der Gewöhnungseffekt, der sich im Westen mit jeder weiteren von Putin gewaltsam vollendeten Tatsache einstellt. Über die annektierte Krim spricht schon längst kaum noch jemand, und auch die okkupierten ostukrainischen Gebiete dürfte die westliche Politik bereits abgeschrieben haben. Nun aber droht diese Haltung auch auf die Beurteilung des Rests des ukrainischen Staats überzugreifen."
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Gesellschaft

Dominic Johnson misstraut in der taz dem viel beschworenen Aufschwung von Afrika, der sich wie die Demokratie in Burkina Faso als reine Fassadenveranstaltung erweisen könnte: "Die mondänen Strandbars von Bujumbura, die glitzernden Hochhäuser von Kigali, die wuselnden Malls von Kampala, die edlen Clubs von Kinshasa und Brazzaville - sie sind Schönwetterphänomene, sie verwandeln schnelles Geld in Genuss und Macht, und sie werden sich als erste leeren, wenn schwere Zeiten anbrechen. Werden sie alle die kommenden Jahre unbeschadet überstehen?"

Im taz-Interview mit Wolf-Dieter Vogel spricht die mexikanischen Menschenrechtsanwältin Alejandra Ancheita über Hintergründe zur mutmaßlichen Ermordung der 43 Studenten: "Fast alle Studenten kommen aus armen Gemeinden in Guerrero, häufig handelt es sich um Indigene."

Weiteres: Andrian Kreye verarbeitet in der SZ kulturtheoretisch und toleranzkritisch seine Begegnung mit einer amerikanischen Gang. Tania Martini berichtet in der taz von Thomas Pikettys völlig überlaufenem Auftritt im Berliner Haus der Kulturen.
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Politik

Mark Siemons erklärt in der FAZ, woher der Begriff "Rule of Law" kommt, der dem Parteiregime in China einen Anschein von Legitimität verleihen soll: von dem Begriff ""Yifa zhiguo" - wörtlich: durch Gesetze das Land regieren", einer Doktrin, die aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert stammt. "Ihr berühmtester Vertreter war Han Feizi, der markante Sätze wie diese schrieb: "Die Weisheit des Volks ist nutzlos; es hat den Verstand von einem Kind. Kinder können nicht verstehen, dass der kleine Schmerz, den sie jetzt erleiden, ihnen später von großem Vorteil sein wird.""

Im Guardian fordert Dirigent Daniel Barenboim von Deutschland mehr Druck auf Israel: "The logic is simple: Germany is committed to the ongoing security of the state of Israel, but this is only possible in the long term if the future of the Palestinian people, too, is secured in its own sovereign state."

Via Telepolis. Ayatollah Khamenei hat auf Dialogangebote Barack Obamas mit einem recht freundlichen Tweet geantwortet:

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Überwachung

Im Guardian erklärt Carole Cadwalladr in einem sehr langen Artikel, warum Berlin zur Heimat von Hackern aus der ganzen Welt wurde. Es sind die Erfahrungen aus der Nazi- und DDR-Zeit, die unvergessen sind. Die Aktivistin Anke Domscheit-Berg etwa war Kunststudentin, als die Stasi sie als Informantin rekrutieren wollte: "Die Leute sagen zur NSA-Affäre, sie hätten nichts zu verbergen. Aber das spielt keine Rolle. So etwas wie unschuldige Informationen gibt es nicht. Es gab Dinge, die ich for den ostdeutschen Behörden verbergen musste, aber das war es nicht, womit sie mich erpressten. Sie erpressten mich mit dem Job meines Vaters. Er war Arzt, beim Staat angestellt. Sie sagten: "Kümmert dich nicht, was mit deiner Familie passiert, wenn dein Vater seine Arbeit verliert?""

Die SZ berichtet, dass der BND ein bisschen mehr Geld für seine Überwachungsprogramme haben möchte: "Der Dienst will einerseits aus Sicherheitsgründen die Abhängigkeit von externen Dienstleistern verringern und mehr auf eigene IT-Fachleute setzen. Andererseits möchte der BND mithilfe externer Spezialisten künftig die Transportverschlüsselung SSL entschlüsseln, die von vielen Shoppingportalen verwendet wird."
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