9punkt - Die Debattenrundschau

Zahnmedizinisch ist Technikskepsis unangebracht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2014. Die Öffentlichkeit hat zwar für Heideggers Manuskripte bezahlt - aber die Erben entscheiden, was veröffentlicht werden darf, bis er siebzig Jahre tot ist, hat die Zeit herausgefunden. Amazon nimmt uns den Namen "Buch" weg, klagt das Blog Mobylives, nachdem Amazon den Domain-Namen .book ersteigert hat. Die russische Menschenrechtsgruppe Memorial ist bedroht, berichten FAZ und Libération. Die Zeit diskutiert den Abschlussbericht zum Thema Pädophilie bei den Grünen. Die taz analysiert die russische Medienpolitik im besonders anfälligen Deutschland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.11.2014 finden Sie hier

Kulturpolitik



Die in London geplante, von Thomas Heatherwick entworfene Garden Bridge hat eine weitere Etappe zur Realisierung zurückgelegt, meldet Dezeen, nachdem zwei Bezirksversammlungen das Projekt befürwortet haben.

Falls das Kunstmuseum Bern die Sammlung Gurlitt doch nicht zeigen will, planten die Gurlitt-Erben die Sammlung einem deutschen Museum zu geben, meldet Monopol mit dpa und zitiert eine Mitteilung der Erben: "Die Familie wünscht, dass die Sammlung der Klassischen Moderne, die Hildebrand Gurlitt aus der Aktion "Entartete Kunst" gerettet hat, zusammenbleibt und dauerhaft in einem deutschen Museum ausgestellt wird."

Ebenfalls in Monopol: Ein Ticker zur bevorstehenden Versteigerung der NRW-Warhols.
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

Die antisemitischen Passagen in den in diesem Jahr veröffentlichten "Schwarzen Heften" Martin Heideggers haben hohe Wellen geschlagen. Wie aber kann es sein, dass die Gesinnung des Philosophen so lange verborgen bleiben konnte? Weil Heideggers Erben und Herausgeber der Gesamtausgabe jede Veröffentlichung genau kontrollieren, erklärt Eggert Blum in der Zeit und diagnostiziert eine heikle "heimliche Allianz aus Familie und öffentlich bezahlter Forschung": "Tatsächlich haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Literaturarchiv Marbach jahrzehntelang beträchtliche öffentliche Mittel für Ankauf, Aufbewahrung und Erschließung des Heidegger-Nachlasses ausgegeben - doch es sind immer die Erben, die darüber entscheiden, wer Zugang zu den Manuskripten erhält."
Archiv: Ideen

Internet

"Gestern hat Amazon eine Auktion gewonnen und besitzt jetzt die neue Domain .book", schreibt Alex Shephard im Amazon-kritischen Blog Mobylive. "Amazon hat etwa 10 Millionen Dollar für den Domain-Namen ausgegeben. Das ist eine Menge Geld für einen Domain-Namen und wahrscheinlich eine totale Geldverschwendung, aber die realen Kosten waren noch viel höher: Wir können unsere Bücher nicht länger "books" nennen, weil Amazon 10 Millionen Dollar bezahlt hat, um uns diesen Namen wegzunehmen."

Sascha Lobo wirft in seiner Spiegel-Online-Kolumne einen Blick auf die Zukunft des Internets. Aus Erfahrung rät er, Stichwörter wie "Big Data" oder "Augmented Reality" mit Vorsicht anzufassen: "Aus einem häufig wiederholten Buzzword wird erst ein Beratungsbudget, dann ein Agenturauftrag, dann eine Ausgabe der Mitarbeiterzeitung und schließlich eine Abteilung im Konzern, um deren Supervision sich IT und Kommunikation streiten."
Archiv: Internet

Europa

Libération veröffentlicht einen Aufruf einiger Russlandforscher für die russische Menschenrechtsgruppe Memorial. Organisationen, die mit ausländischen Partnern zusammenarbeiten, sollen sich laut einem Gesetz von 2012 als "ausländische Agenten" bezeichnen lassen. Dagegen wehrt sich Memorial vor Gericht. Für heute ist ein Termin anberaumt, "in dessen Folge Memorial aufgelöst werden könnte... Dies ist um so beunruhigender als Memorial mehr ist als ein bloßer Verein... Offiziell 1989 unter dem Vorsitz Andrej Sacharows gegründet, hat diese Gruppe eine weltweit einzigartige Arbeit geleistet. Seit den achtziger Jahren hat sie Hunderttausende Namen und Geschichten dem Verschweigen und Vergessen entrissen. Diese nachhaltige Forschungsarbeit hat es vielen Russen erlaubt, die Spuren ihrer Familie wiederzufinden und die Geschichte ihrer Familien aufzuarbeiten." Mehr zu diesem Thema auch in der FAZ.

Der in den USA lebende russische Kulturhistoriker Michail Jampolsky bezeichnet in der FAZ die Widerstandslosigkeit, mit der die Russen der Putin-Propaganda verfallen, als ein Phänomen der "Sklavenmoral" im Sinne Nietzsches: "Es ist frappierend: Obwohl die Regierung, wie Putin sie verkörpert, daran schuld ist, dass den Bürgern jede Form von Einflussnahme auf Ereignisse und Entscheidungen verwehrt ist, nützen die aktuellen psychischen Metamorphosen ihr, statt ihr zu schaden."

Und wie läufts in Moldawien? Markus Bauer (NZZ) hat die moldawische Hauptstadt Chisinau besucht und meldet: "Seit der Unabhängigkeit 1992 spielen sich in der Republik Moldau zähe Auseinandersetzungen um die kulturelle Dominanz ab, die durch den Krieg wenige hundert Kilometer weiter im Osten unvermittelt eine brisante geostrategische Dimension gewonnen haben. Plötzlich sieht sich die EU veranlasst, in wenigen Wochen die Moldau zu "entdecken" (was sie zwanzig Jahre lang versäumt hat)."

In der SZ feiert Gustav Seibt nach einem Besuch der Ruinen von Küstrin-Kostrzyn die deutsch-polnische Versöhnung.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Im Gespräch mit Peter Dausend und Mariam Lau (Zeit) geht der Parteienforscher Franz Walter, der die Untersuchung über Pädophilie bei den frühen Grünen geleitet hat, mit der Partei hart ins Gericht, spricht ihr allerdings auch zu, in ihrer Gründungsphase unterschiedlichste, hoch politisierte Gruppen integriert, zivilisiert und teilweise neutralisiert zu haben: "Eine ähnliche Integrationsleistung haben nach dem Zweiten Weltkrieg auch die CDU und die FDP erbracht, als sie die Ex-Nazis, Deutschnationale und militant Bündische integrierten und zivilisierten - irgendwo mussten die ja hin."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Als "Gegenpol zur aggressiven westlichen Propaganda" hat Russland das gigantische internationale Medienprojekt "Sputnik" launchiert, berichtet Klaus-Helge Donath in der taz. Von den 34 Ländern, in denen es wirken soll, kommt Deutschland eine besonders wichtige Rolle zu: "Bislang war Deutschland als außenpolitischer Mediator und Wirtschaftspartner gefragt, inzwischen hat der Kreml noch etwas erkannt: Die deutsche Auseinandersetzung über Russlands Rolle im Ukrainekrieg offenbarte, dass die Öffentlichkeit links wie rechts für russische Deutungsmuster besonders empfänglich ist. Mit Globalisierungsgegnern, Antieuropäern, Pazifisten und Schwulengegnern lasse sich "ziemlich effektiv arbeiten", meinte ein russischer Polittechnologe."

Der Murdoch-Konzern stellt das nur online und zahlbar zirkulierende Wall Street Journal Deutschland ein, meldet turi2 unter Bezug auf verschiedene Quellen: "Laut newsroom.de konnte sich das kostenpflichtige Angebot bei Nutzern und im Werbemarkt nicht durchsetzen. Ebenfalls gestrichen wird die türkischsprachige Ausgabe Wall Street Journal Türkiye."
Archiv: Medien

Politik

Mit Blick auf Russland und China (aber auch die Türkei und Ungarn) wendet sich Ian Buruma in einem Project-Syndicate-Artikel in der Welt gegen die Vorstellung "dass liberale Demokratie und Kapitalismus ganz natürlich - ja sogar unweigerlich - überall zusammenfinden würden. Politische Freiheit ist gut für die Wirtschaft und umgekehrt. Dieser große Mythos des 20. Jahrhunderts hat sich nun zerschlagen."

Die größte Kritik am geplanten Freihandelsabkommen TTIP rufen die darin vorgesehenen Schiedsgerichte hervor, vor denen Konzerne gegen Staaten klagen können. In der Zeit schildert Petra Pinzler den Fall zweier Unternehmer, die von Rumänien 250 Millionen Dollar erstritten haben, die ihnen im Zuge des EU-Beitritts von Rumänien an Subventionen entgangen sind. "Zwei in Rumänien geborene Milliardäre klagen mithilfe eines französischen Anwaltes vor einem Schiedsgericht in Washington auf der Grundlage eines schwedisch-rumänischen Abkommens. Man kann so etwas als Globalisierung der Rechtssprechung bezeichnen. Oder als Privatisierung."
Archiv: Politik

Überwachung

Im August 2013 wurde der Email-Anbieter Lavabit vom FBI zur Herausgabe seiner Sicherheitsschlüssel gezwungen, weil Edward Snowden bei ihm einen Email-Account hatte. Im Gespräch mit Götz Hamann in der Zeit beschreibt Mike Janke, Chef der Schweizer Sicherheitsfirma Silent Circle, wie seine Firma versucht, sich vor Übergriffen von Geheimdiensten zu schützen: "Emails sind ein echtes Problem. Die Technik ist 30 Jahre alt und von Grund auf unsicher... Als die Sache mit Lavabit passierte, haben wir sofort unseren Email-Dienst eingestellt und alles zerstört. Jetzt arbeiten wir an einer neuen, sicheren Alternative."

Die Überwachung hat ein klares Ziel, meint Wolfgang Michal in seinem Blog und skizziert eine Art Regenbogenallianz: "Der autoritäre Geist, der sich damals wie heute in der globalen Überwachungs- und Kontrollsucht zeigt, hat eine eindeutig politische Dimension: Nicht nur Spione und Terroristen sollen unnachsichtig bekämpft werden, auch ihre (vermeintlichen) geistigen Helfer müssen kontrolliert und bei Bedarf ausgeschaltet werden: Linke, Systemkritiker, Friedensaktivisten, Bürgerrechtler, Umweltschützer, Hacker, Minderheiten, Oppositionelle."
Archiv: Überwachung

Geschichte

Unerhört starke Nerven oder möglichst wenig Phantasie braucht, wer die Ausstellung "Herzblut - Geschichte und Zukunft der Medizintechnik" in Mannheim sehen will. Erst im 19. Jahrhundert hatte man einigermaßen Aussicht, eine Operation ohne Schmerzen und Blutvergiftung zu überstehen, erzählt Eckhard Fuhr in der Welt: "Wer Angst vor dem Zahnarzt hat, sollte sich den Bohrer mit Pedalantrieb aus einer Praxis des frühen 20. Jahrhunderts genau ansehen und dieses Foltergerät mit den Hochgeschwindigkeitsbohrern vergleichen, die heute zum Einsatz kommen. Zahnmedizinisch jedenfalls ist Technikskepsis ganz und gar unangebracht." (Foto: Technosum)
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Medizingeschichte