9punkt - Die Debattenrundschau

Die leere Zeit als Zeichen bedächtiger Klugheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2014. Der Prominenten-Aufruf für Russland sorgt weiter für Debatten. Richard Herzinger fragt in seinem Blog nach dem Wesen des "Genscherismus", dessen Geist der Aufruf atmet. Stefan Niggemeier hätte sich mehr Berichterstattung über den Aufruf gewünscht. Anna Netrebko posiert inzwischen mit den prorussischen Separatisten. In der taz stellt sich KiWi-Verleger Helge Malchow der Vergangenheit des Mitgründers Joseph Caspar Witsch. Die SZ denkt über einen Digitalisierungsstreik nach. Le Monde stellt das neue Medium Reported.ly vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.12.2014 finden Sie hier

Europa

Die Sopranistin Anna Netrebko hat sich ausdrücklich zu den prorussischen Separatisten in der Ostukrainie bekannt, meldet Spiegel Online. Bei dem Termin in Donezk "trat sie gemeinsam auf mit Oleg Zarjow, einem der prorussischen Separatistenführer in der Ostukraine. Dieser versprach, die Spende zu überbringen. Neben Zarjow posierte Netrebko anschließend mit der Fahne von "Neurussland", wie die militanten Aufständischen die Krisenregionen Donezk und Luhansk nennen."

Der prorussische Aufruf vieler Prominenter und Ex-Politiker ("Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen", wir berichteten) macht sich Sorgen um Russland, aber nicht um die Ukraine oder Polen, kritisiert Julia Schäuble im Tagesspiegel: "Gerade die Deutschen sollten die Ängste ihrer polnischen Nachbarn ernst nehmen. Der Aufruf "Nicht in unserem Namen" tut leider das Gegenteil. Er verdreht Ursache und Wirkung, er macht den Westen mitverantwortlich für das Treiben Putins und unterstellt ihm territoriale Expansionsbestrebungen, die er mit denen des Kremlchefs auf eine Stufe stellt. Das ist grottenfalsch. Und es ist gefährlich, weil dadurch Putins Vorgehen verharmlost wird."

Schäuble zitiert aus einem Spiegel-Online-Interview mit Olga Tokarczuk, die schon am Freitag die polnischen Sorgen über die deutsche Russophilie schilderte: "Die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt kommt zurück, die Erinnerung an die Aufteilung Polens, die daraus resultierte. Nach dem Motto: Da wird etwas über unsere Köpfe hinweg entschieden, wir werden nicht als Partner dieser zwei mächtigen Staaten gesehen. Jetzt kommt diese Erinnerung an die Situation von 1939 wieder, als die Verträge mit Engländern und Franzosen, die uns schützen sollten, überhaupt nicht gegriffen haben."

Der Blogger Stefan Niggemeier hängt der These an, dass die prorussische Seite in den Medien nicht ausreichend zu Wort komme und findet es schlimm, dass ZDF und ARD nicht gleich am Freitag ausführlich über den Friedensappell berichteten: "Ich merke, dass beim Wahrscheinlichkeitstest meine Trauriger-Redaktionsalltag-in-nichtsmerkenden-Senderbehörden-Theorie zunehmend an Boden verliert gegenüber jeder Verschwörungstheorie." Ähnlich argumentiert Albrecht Müller auf den Nachdenkseiten.

Richard Herzinger denkt in seinem Blog über die Kehrseiten des "Genscherismus" nach, in dessen Geist der Aufruf formuliert ist: "Gewiss, die deutsche Ostpolitik und der Helsinki-Prozess seit 1975 haben im Effekt zur inneren Aufweichung des kommunistischen Lagers beigetragen. Doch Genscher verschweigt, dass die Sowjets die Entspannungsphase der 70er-Jahre auch zur Hochrüstung mit SS-20-Mittelstreckenraketen nutzten. Die Kompromissbereitschaft des Westens hatten sie als Zeichen seiner Schwäche und Erpressbarkeit ausgelegt."

Wolfgang Sofsky zeichnet in seinem Blog eine Physiognomie des "politischen Veteranen", die ganz gut zu den Unterzeichnern des Aufrufs passt: "Zu vielem wird er befragt, zur aktuellen Regierung, zur Lage der Welt, zum Schicksal des Friedens. Und wenn er nicht gefragt wird, meldet er sich selbst zu Wort. Stets verkündet er seine Weltsicht von höherer Warte. Begierig hängt man an seinen Lippen. Viele Pausen benötigt er mittlerweile, viele Sekunden von Halbsatz zu Halbsatz, doch gilt die leere Zeit als Zeichen bedächtiger Klugheit."
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Medien

Stéphane Lauer, der New York-Korrespondent von Le Monde, stellt Reported.ly vor, ein neues Medium des Ebay-Gründers Pierre Omidyar, der schon The Intercept gründete. Reported.ly will die sozialen Medien auf neue Weise einsetzen: "Das Projekt wird von Andy Carvin geleitet, ein Radiojournalist des öffentlichen Sender NPR, der 2011 für seine Arbeit mit Twitter beim arabischen Frühling bekannt wurde. Carvin meint, dass viele große Medien, die sozialen Netze nur nutzen, um ihre eigenen Inhalte zu bewerben. "Die Nutzer werden in PageViews und Unique Visits gemessen", statt "als dynamische Gruppen von Leuten angesehen zu werden, die auch eine kulturelle Kompetenz und Lebenserfahrung haben, mit denen sie zu unserem Verständnis der Welt beitragen können.""

"Zum Schreien komisch" findet Cigdem Akyol in der NZZ, die irakische Fernsehserie "Staat der Mythen", die den Islamischen Staat mit, zugegeben, zum Teil recht schlichten Mittel veralbere: "Als die Islamisten in einem Flugzeug sitzen, fordert die Stewardess die dümmlich dreinschauenden Männer auf, die Gurte nicht zu sehr festzuzurren. "Sie tragen alle Sprengstoffgürtel, bitte seien Sie vorsichtig", sagt die Flugbegleiterin. Pikiert darüber, dass eine Frau sie ermahnt, gründen die IS-Leute eine eigene Airline."

Springer zeigt, dass man im Internet Geld verdienen kann: So kommentiert ein bewundernder Michael Hanfeld in der FAZ den neuesten Deal beim Axel Springer Verlag, der sich noch stärker in den Rubrikenanzeigenmärkten des Netzes tummeln will. Dafür hat Friede Springer ihre Aktienmehrheit aufgegeben: "Was bedeutet, dass Springer flexibler investieren und Ankäufe mit eigenen Aktien bezahlen kann. Friede Springer gibt ihre Aktienmehrheit auf, behält aber trotzdem das letzte Wort, weil die Stimmrechte von den Kapitalanteilen entkoppelt werden."

In der FR erklärt sich Daland Segler Julia Jäkels rigiden Sparkurs bei Gruner und Jahr als Versuch, "die Verstoßung aus dem Hause B." zu verhindern.
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Geschichte

In einem taz-Interview mit Arno Frank sprechen der Verleger Helge Malchow und der Historiker Frank Möller über den KiWi-Verlagsgründer Joseph Caspar Witsch, dessen wechselvolle Biografie der Verlag gerade herausgegeben hat. Malchow räumt ohne Umstände ein, dass so ziemlich alle Mutmaßungen über Witsch zutreffen: "Und zwar in einem Maße, wie wir es vorher gar nicht wahrgenommen hatten. Er hat die Durchhalteparolen verbreitet, er hat die Nazi-Reden gehalten, er hat als Bibliothekar die Bibliotheken gesäubert. Er hat später Gelder von CIA-Institutionen bekommen und undurchsichtige Geschäfte gemacht. Gleichzeitig verschwindet dabei überhaupt nicht die leidenschaftliche Arbeit dieses Menschen für große Literatur."

Möller sagt dagegen: "Witsch kam ... aus kleinen Verhältnissen. Der wollte nach oben, genauso wie Böll. Das ist ein prägender und durchgehender Zug, in jedem Regime."
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Kulturpolitik

In der SZ überlegt Felix Stephan in Sachen Digitalisierung der Kultur, ob die Verweigerung nicht doch eine dem Fortschritt dienende Haltung sein könnte, ähnlich dem Streik: "Dass jeder überall und jederzeit Zugang zu Wissen und Bildung bekommen sollte, wird niemand bestreiten wollen. Andererseits sind Bibliotheksöffnungszeiten vielleicht nicht das größte Problem einer Gesellschaft, die dem Stigma der Fortschrittsfeindlichkeit nur noch dadurch entgehen kann, dass sie ihr gesammeltes Kulturerbe dem Internet der Gegenwart bedingungslos zur freien Verfügung stellt - einem Internet also, das von globalen Konzernen und entfesselten Geheimdiensten zunehmend dazu benutzt wird, den Verfassungsbruch zum Dauerzustand zu machen."

Ronald Berg hat sich für die taz von der neuen Dessauer Bauhaus-Direktorin Claudia Perren ihre Pläne für die Zukunft erklären lassen.
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Überwachung

"Raus aus der Defensive!", ruft in der FAZ Gerhart Baum zum Treiben von Big Brother und Big Data in unserem neuen Überwachungskapitalismus. Vot allem warnt er davor, die europäische Datenschutzverordnung zu verwässern: "Die Europäer sind dabei, sich ein festes Fundament für den Datenschutz zu schaffen. Die europäische Datenschutzgrundverordnung ist ein wichtiges Instrument auf dem Weg zum Schutz der von der digitalen Revolution bedrohten Freiheitsrechte. Sie wird unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten und löst das geltende Recht ab. Sie gilt auch für die in Europa tätigen ausländischen Firmen, also auch für Google. Sie ist ein Schlüssel für die Wehrhaftigkeit der europäischen Demokratien gegenüber fundamentalen Gefahren, die aus dem Internet erwachsen, und stärkt die Europäer auch gegenüber Amerika."
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