10.01.2015. Libération berichtet über die erste Redaktionskonferenz von Charlie Hebdo nach den Anschlägen: " Jenseits der Inhalte und Deadlines sprach man zunächst über die Toten, die Verletzten, die Hommagen, die Beerdigungen." Die Debatte über Selbstzensur geht überall weiter. Kenan Malik meint: Die Solidaritätsbekundungen für Charlie Hebdo kommen zu spät. Unterdessen beklagt Amnesty International das schlimmste Massaker von Boko Haram in der Gechichte Nigerias mit möglicherweise 2.000 Toten. Die SZ stellt einen Bericht über das Versagen der Medien beim Thema der NSU-Morde vor.
Europa, 10.01.2015
Morgen wird in Paris eine
Demonstration für
Charlie Hebdo stattfinden, an der auch François Hollande teilnimmt - und nicht nur er,
berichtet Libération: "
Angela Merkel,
David Cameron,
Matteo Renzi,
Mariano Rajoy,
Jean-Claude Juncker,
Martin Schulz,
Ibrahim Boubacar Keïta (Mali),
Mahamadou Issoufou (Niger),
Eric Holder (Generalbundesanwalt der Vereinigten Staaten) haben ihre Teilnahme an der Demonstration am Sonntag an der Place de la République zugesagt."

(
Charly Brown-Variation von Steve Broguggs, unter CC-Lizenz auf Flickr.)
Libération berichtet in einem Artikel unter CC-Lizenz, den die
Inrockuptibles übernehmen, über die
erste Redaktionskonferenz von
Charlie Hebdo (dessen Redaktion zur Zeit bei
Libé Unterschlupf gefunden hat): "Die erste Redaktionskonferenz hat mehr als drei Stunden gedauert. Jenseits der Inhalte und Deadlines sprach man zunächst über
die Toten,
die Verletzten, die Hommagen, die Beerdigungen."
Hilma Klute und Alex Rühle sind für die
SZ in Paris, sprechen mit Bürgern, fahren durch die Stadt: "Auf der Fahrt zur Place de la République ist als Marker die ganze Zeit
der Eiffelturm zu sehen, der abends mit seinen vielen Tausend Glühbirnen aussieht wie ein goldener Pfeil, der in den Himmel zeigt. Plötzlich, um Punkt acht Uhr, erlischt er an diesem Donnerstagabend, nur die Signallichter leuchten rot durchs Dunkel.
Nervöses Raunen, einige wussten nicht, dass das eine Anordnung der Bürgermeisterin ist, zum Zeichen der Trauer. Der Turm aber sieht plötzlich aus
wie ein Stift. Ein stählerner Stift, der ins Schwarze zeigt. Mit einer blutrot blinkenden Spitze."
Muslime reagieren nicht anders auf die Pariser Morde als alle anderen Bürger,
schreibt Cigdem Toprak in der
Welt: "Als ich nach dem Attentat in Paris meinen Vater fragte, ob er nun Angst vor antimuslimischen Ressentiments in Deutschland habe, antworte er mir mit den Worten: "Nein, warum sollte ich jetzt Angst haben? Ich bin doch kein Islamist." Wahrscheinlich ist mein Vater in den 45 Jahren, die er in Deutschland lebt, nie allein aufgrund seines muslimischen Glaubens diskriminiert worden. Für ihn galten die Schüsse auf die Karikaturisten der französischen Satiremagazin
Charlie Hebdo unschuldigen Menschen und den Werten der Demokratie, Freiheit und Aufklärung."
"Die Solidaritätsbekundungen mit den in der Attacke auf
Charlie Hebdo Dahingeschlachteten sind beeindruckend. Aber
sie kommen zu spät",
schreibt Kenan Malik, Autor von "From Fatwa to Jihad - The Rushdie Affair and Its Legacy" in seinem Blog. "Hätten Journalisten und politische Aktivisten in den letzten zwanzig Jahren einen
klareren Standpunkt bezogen, dann hätte es nicht dazu kommen müssen. Statt dessen haben sie dazu beigetragen, eine Kultur der Selbstzensur zu schaffen... Furcht ist nur eine Erklärung dafür. Es hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten auch eine moralische Befürwortung von Zensur entwickelt, ein Glaube, dass sich politischer Diskurs in einer vielfältigen Gesellschaft begrenzen muss." Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist ein
Bericht des
NYT-Korrespondenten David D. Kirkpatrick über
Diskussionen in Kairo, warum so viele Muslime dem religiösen Extremismus verfallen.
Tariq Ramadan, der sich einmal selbst als gemäßigter Salafist einschätzte,
schreibt im
Guardian: "Wir reagieren emotional, weil zwölf Leute in Paris ermordet wurden, aber es werden jeden Tag Hunderte in Syrien und Irak getötet, und
wir schicken immer noch Bomben dahin. Wir müssen den großen Zusammenhang sehen." Ramadan beklagt auch, dass bei
antisemitischen Karikaturen andere Maßstäbe angelegt würden: "Im Jahr 2008 hat Charbs Magazin einen Zeichner gefeuert, weil er sich über die
jüdische Herkunft von Präsident Sarkozys Sohn lustig gemacht hat. Wo war da die Meinungsfreiheit?"
Auch
Glenn Greenwald setzt in
The Intercept Spott über Religion mit Hass auf eine Bevölkerungsgruppe gleich und bringt als Retourkutsche für all die "antimuslimischen" Karikaturen von
Charlie Hebdo eine Reihe
antisemitischer Karikaturen: "Um dieses Prinzip zu befolgen und Solidarität mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Presse zu zeigen, publizieren wir hier einige blasphemische und
anderweitig beleidigende Cartoons über eine Religion und ihre Anhänger."
In der
NZZ denkt Hartwig Isernhagen in einem klugen Artikel über den
kulturellen Lernprozess nach, der Voraussetzung ist für einen zivilisierten Umgang mit Karikaturen.
Politik, 10.01.2015
Das Pariser Massaker reiht sich ein in eine unendliche Abfolge
immer grauenhafterer Untaten im Namen der Religion, von den Morden an pakistanischen Schulkindern bis zu den jüngsten Morden in
Nigeria.
AP berichtet: "
Hunderte von Leichen - zuviele um sie zu zählen - liegen nach einer Attacke islamistischer Extremisten im nigerianischen Buschland. Amnesty International nannte diese Attacke das "blutigste Massaker" in der Geschichte von Boko Haram... Ein Amnesty-Statement sagt, dass die Stadt Baga geschleift ist und
2.000 Menschen getötet wurden."
In
Saudi-Arabien ist am Freitag der Menschenrechtsaktivist und Blogger
Raif Badawi öffentlich ausgepeitscht worden,
berichtet der
Standard. Badawi war wegen "Beleidigung des Islams" zu zehn Jahren Gefängnis und
1000 Peitschenhieben verurteilt worden. Letztere sollen ihm in zwanzig Portionen verabreicht werden. Badawi, 2014 mit einem Preis von "Reporter ohne Grenzen 2014" ausgezeichnet, hatte auf seiner Webseite
"Liberal Saudi Network" die saudische Religionspolizei kritisiert.
Carsten Hueck hat für die
Welt Schriftsteller in Israel besucht, die nach dem letzten Krieg zwischen Depression und "irgendwie weitermachen" schwanken. So sagt die Schriftstellerin
Lizzie Doron: "In Israel sei es eng geworden. "Wenn man keine Zukunft sieht, hält man sich an Erinnerungen und Erfahrungen der Vergangenheit fest." Daher die Hinwendung zu Nationalismus, Zionismus und Orthodoxie, die Fixierung auf den Holocaust. "Israel ist ein
Ghetto für Juden geworden", sagt sie. "Wir können nicht raus, weder mit Bahn noch Bus. Nur mit dem Flugzeug." Die ganze Gesellschaft befände sich in einer Regression, so Doron. "Die Verhältnisse hier sind nicht stabil. Viele reagieren auf den
Verlust der Hoffnung auf rationale Lösungen mit einer Hinwendung zur Religion.""
Medien, 10.01.2015
Patrick Bahners fasst sich in der
FAZ an den Kopf angesichts
amerikanischer Medien, die die Karikaturen von
Charlie Hebdo nicht drucken mögen: "Wenn amerikanische Chefredakteure von der Pressefreiheit reden, geht es
nie ohne Eigenlob ab. Dass
Washington Post und
New York Times im Vietnamkrieg Geheimpapiere aus dem Pentagon druckten, gilt als Ruhmesblatt, das nicht verwelken kann. Aber nachdem jetzt Karikaturisten und Redakteure, ein Korrektor und zwei Polizeibeamte
für die Freiheit der Presse gestorben sind, erwecken die Weltblattmacher den Eindruck, dass ihnen das Presseerzeugnis, an dem die Mörder Anstoß nahmen,
peinlich ist." Auch Hannes Stein
konstatiert in der
Welt: "Nach dem Mord an den Kollegen von
Charlie Hebdo wird leider gerade in der angelsächsischen Welt wieder
munter Selbstzensur geübt."
Clemens Wergin
warnt ebenfalls in der
Welt allerdings vor
Illusionen: "Die aus Selbstschutz erwachsene Selbstzensur hat bei diesem Thema
längst eingesetzt. Und wenn die derzeitige
Aufwallung von Bekenntnismut vorüber ist, werden sich noch mehr Karikaturisten und Chefredakteure fragen, ob es diese oder jene Karikatur wirklich wert ist, dafür ein Leben hinter Sicherheitsschleusen zu riskieren oder noch Schlimmeres. Die traurige Wahrheit ist: Terrorismus funktioniert - noch immer."

Das solidarische Verhalten deutscher Zeitungen mit
Charlie Hebdo wird leicht getrübt durch einzelne Versuche - erst von Berthold Kohler
in der FAZ, heute von Stefan Ulrich in der
SZ - im Schatten der ermordeten Karikaturisten die
Bedeutung ihrer Zeitungen anzupreisen. So schreibt Ulrich heute in der
SZ: "Dem Attentat zum Trotz geht die
Hauptgefahr für die Pressefreiheit in Europa bislang jedoch nicht von Extremisten aus. Zeitungen und Zeitschriften sind in ihrer Existenz bedroht, weil
Anzeigenkunden verloren gehen und Leser sich lieber
gratis im Internet informieren, als für ein Abonnement zu bezahlen." Noch unangenehmer fällt heute der
Spiegel auf, der sich heute mit
ganzseitige Anzeigen als Filmheld der Meinungsfreiheit inszeniert. Der
Spiegel erscheint seit heute übrigens
Samstags.
Etwas versteckt und klein, aber zumindest ehrlich ist Tanjev Schultz"
SZ-Artikel über eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung, die zeigt, dass nicht nur die Behörden, sondern auch die
Medien bei den
Morden des Zwickauer Terrortrios durchweg versagten: "Beschämend für die Branche ist, wie der unpassende, zynische Begriff "
Döner-Morde" die Runde machte. Erstmals tauchte er 2005 in der
Nürnberger Zeitung auf, später stand er fast überall. In
Bild und
Welt,
FAZ und
SZ. Beschämend ist zudem,
wie willfährig Journalisten den Irrwegen der Ermittler folgten und sie dazu beitrugen, die Opfer und deren Familien in eine kriminelle Ecke zu rücken. Statt an einen rechtsextremistischen Hintergrund glaubte man auch in den Redaktionen lieber an eine
mysteriöse ausländische Bande mit einem rigiden Ehrenkodex; an Geldwäscher und Schutzgelderpresser, Wettpaten und Drogenhändler." Die Otto-Brenner-Stiftung verspricht, heute um 11 Uhr mehr über die Studie mitzuteilen, mehr auf der
Homepage der Stiftung.