9punkt - Die Debattenrundschau

Die Presse ist ganz klar nicht frei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2015. Frankreich ist heute das einzige Land Europas, in dem Juden umgebracht werden, weil sie Juden sind. Michel Gurfinkiel analysiert in der Jüdischen Allgemeinen die Diskurse des Antisemitismus in Frankreich, und die JA spricht mit französischen Juden, die an Emigration denken. In Frankreich beginnt die Debatte über die Rolle der Schulen: "Nur in der Schule kommen alle Schichten zusammen", sagt Cécile Wajsbrot in der NZZ. Salman Rushdie verteidigt die Zeichner von Charlie Hebdo gegen den Rassismus-Vorwurf. Was nützt Überwachung, wenn überwachte Terroristen sich eine Kalaschnikow besorgen können, fragt Sascha Lobo in Spiegel Online. Endlich gibt es ein paar Informationen zum Massaker in Nigeria.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.01.2015 finden Sie hier

Politik

Endlich konnte Amnesty International einige Informationen zu dem Massaker in der Region der abgelegenen nigerianischen Stadt Baga zusammentragen, die von Boko Haram angegriffen wurde. Manche sprachen danach von 150 Todesopfern, andere von 2.000. Lisa Erdmann und Vera Kämper berichten auf Spiegel Online über Satellitenbilder, die Amnesty von einem Experten hat auswerten lassen: "Darauf sei zu erkennen, dass mehr als 3700 Gebäude beschädigt oder komplett zerstört worden seien: rund 600 in Baga und 3100 in Doron Baga, der größeren von beiden Städten, die etwa vier Quadratkilometer Fläche hat. "Es handelt sich hier um eine vorsätzliche Attacke auf Zivilisten, deren Häuser, Kliniken und Schulen nun Ruinen sind." Nach der Auswertung der Bilder, Gesprächen mit Augenzeugen und Menschenrechtsaktivisten von vor Ort geht die Organisation von Hunderten Toten aus. Auf eine genaue Zahl will sie sich nicht festlegen."
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Europa

Das Pariser Medienblog arretsurimages.net geht die Titelblätter nach Erscheinen der neuen Charlie Hebdo durch und stellt fest: "Mohammed ist selten". Les Inrockuptibles sind eine Ausnahme.

Man muss es leider eingestehen: Frankreich ist heute das einzige Land Europas, in dem Juden umgebracht werden, weil sie Juden sind. Und seit der junge Ilan Halimi 2006 von einer Banlieue-Bande über Wochen zu Tode gefoltert wurde, haben die Franzosen viel zu wenig getan, um dagegen einzuschreiten. Michel Gurfinkiel analysiert in der Jüdischen Allgemeinen die verschiedenen Formen des Antisemitismus in Frankreich, der heute vor allem eine Triebkraft hat, den muslimischen Antisemitismus: "Leider hängt die Mehrzahl der französischen Muslime unverändert Formen von Judenhass an, wie sie in der islamischen Welt generell vorherrschen. Die meisten von ihnen zeigen sich resistent gegen jede Form von Information und Bildung zum Holocaust." Gurfinkiel fürchtet, dass sich die verschiedenen Traditionen des Judenhasses zu einem "Fusionsantisemitismus" verbinden, dessen Preis die französischen Juden bezahlen müssen.

Ebenfalls für die JA ist Mchael Neubauer im Städtchen Saint-Mandé bei Paris unterwegs, wo viele Juden leben. Dort trifft er auch Sabrina Scetbon, die Sprecherin des Bürgermeisters: "Scetbon dreht ihr Handy um und zeigt auf den Aufkleber auf der Rückseite: "Je suis Charlie". Es klinge vielleicht ein wenig zynisch, sagt sie. Und fragt dann: "Hätte es nur den Anschlag auf den jüdischen Supermarkt gegeben und nicht die Attacke auf Charlie Hebdo, hätte es dann diese große Mobilisierung gegeben? Wohl kaum." Sie spricht aus, was viele Juden hier denken: Dass die Republik sie allein lässt."

Die große Frage wird sein, ob Frankreich nun endlich auf die Radikaliserung seiner Jugend reagiert. Cécile Wajsbrot sagt dazu in der NZZ: "Nur in der Schule kommen alle Schichten zusammen. Für viele ist sie der einzige Ort, wo man etwas lernen kann. Die Familie kann ein Lebensquell, aber auch ein Albtraum sein. Die Schule sprengt die Enge heimischer Verhältnisse. Leider nimmt die Durchmischung ab, vor allem in den Banlieues. Auch wird der Lehrerberuf immer mehr entwertet, nicht nur wegen der schlechten Löhne. In einer Gesellschaft, in der die Werte auseinanderdriften und der Hass sich aggressiv ausbreitet, braucht es Nerven und Mut, Lehrer zu sein." Schriftsteller Abdelkader Benali schildert ebenfalls in der NZZ sehr lesenswert das Selbstbild junger Muslime im Westen.

Im Guardian kommentiert Hadley Freeman eine Umfrage in Britannien, wonach 45 Prozent der Briten, denen mehrere antisemitische Statements vorgelegt wurden, auf wenigstens eines mit Zustimmung reagierten. Aber auch die Berichterstattung britischer Medien über die in Paris ermordeten Juden schlägt ihrer Ansicht nach in die gleiche Kerbe: "Seit den schrecklichen Morden warnen Journalisten und Politiker immer wieder davor, dass diese Vorfälle jetzt keine antimuslimische Bewegung auslösen dürfe. Das ist alles schön und gut. Aber können wir kurz den Schlag betrachten, bevor wir über den Rückschlag reden? Vier Juden wurden getötet, weil sie in einem jüdischen Supermarkt waren, das ist die unbequeme Wahrheit, die wenig kommentiert wurde - jedenfalls gemessen an den Kommentaren zur Bedeutung der Meinungsfreiheit oder der Ironie, dass die Terroristen einen Muslim töteten, den Polizisten Ahmed Merabet."

In der SZ beklagt Sonja Zekri ein "vergiftetes Gesprächsklima", das alle Muslime jetzt unter Generalverdacht stelle: "Bereits im September, als die Kopfabschneider des Islamischen Staates (IS) die Welt schockierten, hatten britische Muslime den Hashtag "Notinmyname", nicht in meinem Namen, ins Leben gerufen, heute haben sich Tausende Muslime der Internetkampagne angeschlossen. Es wird ihnen nichts nützen. Die ausländerfeindliche Pegida-Bewegung erhält weiter Zulauf. Und dass zu den stärksten Trends auf Twitter derzeit der Hashtag "killallmuslims", tötet alle Muslime, gehört, zeigt nur, wie tief die Gräben sind."

"Nicht weniger, sondern mehr Freiheit", muss die Antwort auf die Pariser Terroranschläge lauten, fordert Navid Kermani in seiner Rede bei der gestrigen Trauerkundgebung in Köln, die die Zeit abdruckt. Dabei nimmt Kermani besonders die Muslime in die Pflicht: "Es liegt an uns, an jedem Einzelnen, die Fratze abzureißen, die das Gesicht unserer Religion entstellt." Das sieht der frühere bosnische Großmufti Mustafa Cerić völlig anders. Im Gespräch mit Yassin Musharbash auf Zeit Online erklärt er, dass die Attentäter keine Muslime waren: "Was in Paris passiert ist, ist nicht "Islamischer Terrorismus". Ich würde die Medien in Europa gern bitten, sich dafür zu entschuldigen, den Begriff "Islamischer Terrorismus" zu benutzen... "

Salman Rushdie hat laut AP Stimmen von links und rechts kritisiert, die schon kurz nach dem Attentat die Karikaturisten "diffamiert, als Rassisten und sonst was bezeichnet haben": "Er sagte, manche glaubten, die Meinung sei frei, solle aber niemanden aufregen oder zu weit gehen. "Sowohl John F. Kennedy als auch Nelson Mandela haben einen Satz gesagt, der meiner Meinung nach alles dazu sagt: Freiheit ist unteilbar. Man kann sie nicht zerlegen, dann ist sie nicht mehr frei.""

In der SZ warnt Lothar Müller: "Aber gnade uns Gott, wenn die Verteidigung der Pressefreiheit als Feldzug gegen jegliche Religiosität geführt wird."

Ein paar einfache Sätze sagen auf huffpo.fr einige französische Intellektuelle, darunter Pascal Bruckner und Pierre-André Taguieff über Islam und Islamismus: "Gewiss, nicht alle Muslime sind Dschihadisten, aber alle Dschihadisten sind Muslime. Man hat das Recht zu fragen, was im Islam innerlich diese mörderische Wut speist. Wenn dies einer "Religion der Liebe und des Friedens" ist, muss man vielleicht ein bisschen näher herangehen, um ihr zu entreißen, was sie vom Weg abringt. Dieses Reformwerk kann nur im Innern der muslimischen Sphäre bewältigt werden."

Von einer Todesstrafe auf Blasphemie steht nichts im Koran, aber die Biografie Mohammeds berichtet von 40 Menschen, die hingerichtet wurden, weil sie ihn beleidigt hatten, schreibt Hamed Abdel-Samad in der Zeit. Der daraus abgeleiteten Auffassung, die Beleidigung des Propheten müsse mit dem Tode bestraft werden, fielen nicht nur Theo van Gogh und die getöteten Mitarbeiter von Charlie Hebdo zum Opfer, sondern auch zahllose Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle in muslimischen Ländern: "Wollen Muslime ihre Religion frei leben, müssen sie die alten Texte relativieren. Dies tun bereits viele im Privaten. Doch die führenden Geistlichen wehren sich gegen Reformen, und so kämpfen einzelne Reformer bislang vergeblich gegen den Fels der Orthodoxie." In einem Facebook-Post hat Abdel-Samad überdies seinen Widerwillen gegen die ökumenische Gedenkveranstaltung vor dem Brandenburger Tor bekannt.
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Überwachung

Sascha Lobo bekennt in seiner Spiegel Online-Kolumne seine Ratlosigkeit nach dem Pariser Massaker (und übrigens auch über Glenn Greenwalds Antisemitismus) und stellt doch ein paar fällige Fragen: "Überwachte Islamisten schaffen es, ein paar Kalaschnikows und einen Raketenwerfer zu besorgen, und planen unter dem Radar der Überwachung hindurch einen Anschlag. Was nützt diese Überwachung?"
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Internet

In der FAZ setzt Jasper von Altenbockum Anonymität im Netz mit der Burka gleich: "Wer sich die Tarnkappe, die Netz-Burka überzieht, dem ist nicht an Aufklärung, Offenheit und daran gelegen, was Öffentlichkeit schaffen soll - den gesellschaftlichen "Zusammenhalt" durch Meinungsbildung." (Diese Rechtfertigung für ein staatlich überwachtes Netz hören die Diktatoren dieser Welt sicherlich gerne)
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Stichwörter: Anonymität, Burka

Geschichte

Nachdem der Zweite Weltkrieg beendet war, regierte in Europa das Chaos, umreißt der Historiker Keith Lowe im Gespräch mit Jan Feddersen (taz) die Hauptthese seines Buches "Der wilde Kontinent": "Es mangelte überall an Nahrung. In Italien beispielsweise gab es Essensaufstände. Die Frauen protestierten auf der Straße gegen die alliierte Regierung. Es gab Ladeneinbrüche, Diebstähle - überall. Arbeiter wurden mit Essen bezahlt, weil das Geld wertlos war, besonders in Ungarn. Die Leute, die keine Arbeit hatten, hatten es besonders schwer. Sogar in Großbritannien war die Verpflegungssituation nach dem Krieg schlechter als während des Krieges."
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Medien

Gestern erklärte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu von der rechtskonservativen AKP im Interview mit der FAZ noch: "In der Türkei kann jeder am politischen Leben teilnehmen und abweichende Meinungen äußern." Am gleichen Tag hat die türkische Polizei die Auslieferung von Charlie Hebdo in der Türkei verhindert, die Auslieferung der Zeitung Cumhuriyet wurde von der Polizei gestoppt um zu überprüfen, ob sie das Charlie-Hebdo-Cover drucken, berichtet Frank Nordhausen in der FR. Ekrem Dumanli, Chefredakteur der türkischen Zeitung Zaman, widerspricht im Interview mit Spon heute Davutoglus Schönfärberei: "Erdogans Aussage ist lächerlich. Man muss sich nur die Zahl der Journalisten in der Türkei anschauen, die festgenommen wurden oder gegen die Rufmordkampagnen geführt werden. Die Presse ist ganz klar nicht frei." (Bild: türkisches Cover von Charlie Hebdo)

Auch Saudi-Arabien hatte die Anschläge auf Charlie Hebdo verurteilt, kurz darauf jedoch dem saudischen Blogger Raif Badawi die ersten 50 Peitschenhiebe von 1000 verabreicht. Badawi war verurteilt worden, weil er die religiöse Kontrolle des öffentlichen Lebens in Saudi Arabien kritisiert hatte. Laut einem Bericht des Guardian hat sich jetzt die Ehefrau Badawis an die Öffentlichkeit gewandt und gewarnt, ihr Mann werde die morgen anstehenden nächsten 50 Peitschenhiebe möglicherweise nicht überleben: "Badawi"s wife, Ensaf Haidar, who is now in Canada, has said she fears he may not be able to physically withstand a second round. "Raif told me he is in a lot of pain after his flogging, his health is poor," she told Amnesty. "I told our children about the news last week so that they would not find out about it from friends at school. It is a huge shock for them. International pressure is crucial; I believe if we keep up the support it will eventually pay off.""

Amnesty ruft für heute 11 Uhr zu einer Demonstration vor der saudischen Botschaft auf.
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