9punkt - Die Debattenrundschau

Vielerlei Unzufriedenheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2015. Es wird weiter über Charlie Hebdo gestritten: Wenn wir die Ermordung eines Polizisten verpixeln, ist es dann nicht verständlich, dass die Muslime keinen Mohammed sehen wollen, fragt die Zeit. Gérard Biard, Chefredakteur von Charlie Hebdo, kritisiert dagegen Medien, die die Karikaturen nicht zeigen. Die taz verabschiedet das Freihandelsabkommen TTIP und begibt sich nach Moldawien. Und der Spiegel offenbart neue Pläne der Fünf Augen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.01.2015 finden Sie hier

Europa

Gérard Biard, Chefredakteur von Charlie Hebdo hat den amerikanischen Sender NBC und andere angelsächsische Medien kritisiert, die das neueste Charlie Hebdo-Cover zensieren: "Diese Karikatur ist nicht einfach eine kleine Figur, ein kleiner Mohammed, der von Künstlern gezeichnet wurde... Es ist ein Symbol, ein Symbol für die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, für Demokratie und Säkularismus....Es ist dieses Symbol, dessen Veröffentlichung sie verweigern."

Hanno Rauterberg in der Zeit findet das ungerecht: Das Bild des erschossenen Polizisten in Paris wurde verpixelt, "auf schamvolle Weise unscharf gemacht. Warum sollte dann Muslimen nicht zugestanden werden, dass sie es ihrerseits schamlos finden, wenn jemand die Würde ihres Propheten auf zeichnende Weise verulkt?"

Auch die Kunsthistorikerin Charlotte Klonk denkt in der FAZ über Bilder von Ermordungen nach, die ins Netz gestellt werden: "Für uns, die wir andauernd Bilder googeln und im Netz betrachten, sind diese Bilder nur zu entschärfen und der Nachschub unattraktiv zu machen, indem wir das tun, was im endlosen Angebot der Terrorbilder die einzige Möglichkeit ist, ihre Macht zu brechen: sie bewusst nicht anzuschauen."

Alex Rühle unterhält sich für die SZ mit dem Soziolgen Michel Wieviorka, der einst ein optimistischer Multikulti-Anhänger war und heute vor allem das Versagen der Republik beklagt. Auf die Frage, was jetzt kommen wird, antwortet er: "Mehr Überwachung, strengere Gesetze. Aber du kannst nicht alles verhindern. Wir haben die einsamen Wölfe, Leute, die sich still und heimlich ganz für sich radikalisieren. Vor Weihnachten gab es hier mehrere Fälle von Männern, die mit ihren Autos in Menschenmengen gefahren sind und "Allahu akbar!" gerufen haben. Wie wollen Sie das verhindern? Das kann jeder machen, der einen Führerschein hat."

Charlotte Pudlowski zitiert auf slate.fr Roger Cukierman, einen Sprecher französischer Juden, der in einfachen Worten klar macht, warum so viele französische Juden an Emigration denken: "Stellen Sie sich vor, Sie haben Kinder. Sie können sie auf eine öffentliche oder auf eine jüdische Schule schicken. Schicken Sie sie auf die öffentliche Schule, gehen Sie das Risiko ein, dass ihre Kinder beleidigt und angegriffen werden. Übrigens geht nur noch ein Drittel aller jüdischen Kinder auf öffentliche Schulen. Aber wenn Sie auf eine jüdische Schule gehen, werden sie ausgegrenzt und als Ziel betrachtet. Wie in Toulouse."
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Überwachung

Die NSA dient nicht nur der Abwehr fremder Spionage, sondern auch dem Angriff, lernen wir heute im Spiegel. Es gibt eine recht ausführliche Zusammenfassung online (mit allen Dokumenten), an der alle mitschreiben, die in der Überwachungskritik Rang und Namen haben, Laura Poitras, Jacob Appelbaum, Andy Müller-Maguhn etc.: "Der Geheimdienst hat es nicht nur auf die totale Überwachung der Kommunikation im Internet abgesehen. Die Digitalspione der sogenannten Fünf-Augen-Allianz aus USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland wollen mehr. Sie planen Schlachten im Internet, um Computernetzwerke lahmlegen zu können - und damit potenziell alles, was die steuern: Strom- und Wasserversorgung, Fabriken, Flughäfen oder Zahlungsverkehr. So zeigen es streng geheime Dokumente aus dem Archiv des NSA-Whistleblowers Edward Snowden".
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Politik

Poh Si Teng, eine amerikanische Journalistin malaysischen Ursprungs, ist in ihr Herkunftsland zurückgereist, um sich auf die Spur von Kämpfern der IS-Miliz zu begeben, denen sie bei Facebook begegnete - Facebook ist fast das wichtigste Mittel der Terroristen, um Kontakt mit ihrer Heimat zu halten. Im Lens Blog der New York Times berichtet sie. Ihre zehnminütige Videoreportage ist sehr beeindruckend, weil sie zeigt, wie sehr die Kämpfer in ihre Gemeinschaften integriert sind und wie sehr sie als Vorbilder, ja geradezu Heilige verehrt werden. (Das Video lässt sich nicht einbetten, bitte hier klicken, der Screenshot zeigt die Familie eines IS-Terroristen.)

NZZ-Korrespondent Joachim Güntner sieht in den Sprüchen der Pegida-Bewegung vor allem "Reflexe einer verunsicherten Mittelschicht": "Näher betrachtet, ist das Feindbild "Islamismus" nur der gemeinsame Nenner für vielerlei Unzufriedenheit. Kulturkritik, die den Verrat christlicher Werte und traditionsbewusster Bildung an Konsum und niedere Unterhaltung geißelt, mischt sich mit massivem Antikapitalismus, Antiamerikanismus und einer Systemkritik, gemäß welcher eine "Parteien-Diktatur" die Bundesrepublik beherrsche."

Das Freihandelsabkommen TTIP liegt in Trümmern, meint Ulrike Herrmann in der taz: "Denn wie der Name "Transatlantic Trade and Investment Partnership" bereits sagt, sollte dieser Vertrag aus zwei Teilen bestehen: aus einem Abkommen zum Handel - und zum Investorenschutz. Doch über den Investorenschutz wird seit einem Jahr nicht mehr geredet, weil der Widerstand in einigen europäischen Ländern zu groß war."

Außerdem: Die taz bringt heute anlässlich eines US-Reports über die Folterungen der CIA ein großes Dossier über Folter.
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Religion

In der Welt ist der afghanisch-deutsche Regisseur Ali Hakim verwirrt, weil der Islam neuerdings sehr viel mit dem Islamismus zu tun haben soll: "In meinem Islam gibt es nicht einmal eine Kopftuchpflicht. In meinem Islam liebe ich es, Zeit mit den Kufars, den Ungläubigen, zu verbringen. Und an Wochenenden findet man mich in Hamburger Bars, wenn ich mein Weinglas schwenke und der Bedienung auf den Busen schiele. Soll ich jetzt aufhören, Moslem zu sein? Ich kann mir nicht eingestehen, dass diese Mörder etwas mit mir zu tun haben. Auf der anderen Seite teilen wir dasselbe religiöse Fundament. Also doch?"

Der muslimische Theologe Abdel-Hakim Ourghi macht in der SZ klar, dass sich Terroristen durchaus auf den Koran berufen können: "Die Gefahr des gewalttätigen politischen Islam im Namen Allahs ist nicht durch die Unterscheidung zwischen muslimischen Extremisten auf der einen und dem friedfertigen Islam auf der anderen Seite aus der Welt zu schaffen. Auch die bequeme Betrachtung, dass die Extremisten keine Muslime seien, ist naiv. Den Islamisten dienen als Handlungsanleitung doch einige medinensische Koranpassagen und das Handeln des Propheten selbst, somit kanonische Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre."

Weiteres: FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube ruft dem Papst, der Gegnern von Religion mit der Faust im Gesicht drohte, einige Prinzipien der Meinungsfreiheit in Erinnerung.
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Gesellschaft

Sonja Vogel ist für die taz nach Moldawien gefahren, wo die Kulturszene ein elendes Dasein fristet. Die meisten Künstler sind bereits emigriert, Geld für zeitgenössische Kultur kommt fast nur aus westlichen EU-Ländern, schreibt sie: ""Das Problem ist der staatliche Konservativismus. Wir sind nicht mehr in der UdSSR, aber die Eliten sind irgendwo da hängen geblieben", sagt Kuzmenko. In der sowjetischen Zeit war der kulturelle Raum institutionalisiert. In jeder Ortschaft gab es eine Schule, ein Kulturhaus, eine Bibliothek, ein Kino. Nach 1989 schlossen die meisten. Es entstand ein Vakuum. Die straffen Hierarchien haben allerdings überdauert: Schon die jungen KünstlerInnen werden in die staatliche Ausbildungsmühle eingespannt: Kunstschule für die Kleinen, Kunstcollege für die 16- bis 19-Jährigen und Kunstakademie für Studierende. Der Lehrplan endet im frühen 20. Jahrhundert."

Im Interview mit der Welt erklärt der senegalesische Rapper Awadi, warum Rap in Afrika immer noch eine politische Funktion hat: "Wer erzählte sonst von den gebrochenen Wahlversprechen? Wer berichtete der Welt, dass die senegalesischen Fischer nichts mehr fangen, weil europäische Trawler das Meer vor ihrer Küste leerfischen? Wer würde das Recht auf Jobs, auf Mitbestimmung, auf Reisefreiheit einfordern?"

Weitere Artikel: In der SZ untersucht Ruth Schneeberger die oft genug sexistische Werbung in Deutschland. Und Barbara Villiger-Heilig schickt für die NZZ eine Reportage aus dem Paris nach dem Massaker bei Charlie Hebdo.
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