20.01.2015. Voltaire schweift jetzt eher zwischen Tanger und Tunis umher, und nicht mehr so sehr im Westen, meint Samuel Schirmbeck in der FAZ. Pankaj Mishra will im Guardian den Säkularismus des Westens abschaffen. Die Berliner Zeitung lauscht Michel Houellebecq. Der GCHQ hat Mails von Journalisten abgespeichert. Außerdem soll in Großbritannien der journalistische Quellenschutz abgeschafft werden. Der Guardian wehrt sich. Die FAZ schildert die Liebe der Türken zu Charlie Hebdo.
Europa, 20.01.2015
Der ehemalige
ARD-Korrespondent Samuel Schirmbeck kann die Duldsamkeit vieler Linker angesichts des
Islamismus nicht zu fassen. Sehr viel deutlicher ist die Opposition in den muslimischen Ländern selbst,
schreibt er in der
FAZ: "
Voltaire aber schweift jetzt eher
zwischen Tanger und Tunis umher. Veranstaltet öffentliche Anti-Ramadan-Picknicks in Marokko und Algerien, um gegen den Glaubenszwang und für Gewissensfreiheit zu demonstrieren. Wird dafür verprügelt, festgenommen und riskiert Gefängnis. Trifft sich zum
ersten Kiss-in auf muslimischem Boden vor dem Parlament in Rabat, als Antwort auf das Gerichtsverfahren gegen ein
14 Jahre altes Mädchen und zwei 15 Jahre alte Buben. Das Mädchen hatte seinen Freund geküsst, und dessen Freund hatte das Bild ins Internet gestellt. "Tötet sie!", hatten die Frömmler im Netz gefordert."
Der Soziologe Didier Fassin
wirbt in
Le Monde um Verständnis für die muslimischen Jugendlichen: ""Wir sind ein Volk", titelte
Libération voller Begeisterung nach der Demonstration vom 11. Januar. Und all jene, die wissen, dass sie
nicht dazugehoren zu diesem Volk, dass sie hier nicht willkommen, sondern bestenfalls geduldet sind, schweigen weiter. Sie sehen, dass Synagogen geschützt werden, aber nicht
Moscheen, wo sich Angriffe und Profanierungen häufen." Ähnlich
sehen es Sabine Seiferts Gesprächspartner in einer taz-Reportage aus Gennevilliers und Sarcelles bei Paris.
Hülya Özkan-Bellut berichtet für die
FAZ über die
türkischen Reaktionen auf die Pariser Massaker: "In keinem anderen muslimisch geprägten Land war die Anteilnahme für die Opfer von Paris so groß wie in der Türkei. So veröffentlichten die wichtigsten Satiremagazine
Leman,
Penguen und
Uykusuz eine gemeinsame
Charlie Hebdo-Gedenkausgabe. "Wir Karikaturisten müssen weitermachen, jetzt erst recht", sagt der Chefredakteur Akgün. Das Tagesgeschäft werde fortgesetzt, und wie immer kämen sie mit dem Zeichnen gar nicht hinterher. Kaum habe man einen Titel fertiggestellt, hole einen die
Realsatire der türkischen Regierung wieder ein."
In Paris hat das
Theater Ciné 13 sein islamkritisches Drama"Gesteinigt" nach zwei Vorstellungen wieder abgesetzt,
berichtet Axel Veiel in der
Berliner Zeitung: "Die Präfektur habe zur letzten Vorstellung
25 Polizisten abgestellt, erzählt die Intendantin Lelouch. Sie würden dringend zur Sicherung von Bahnhöfen und Flughäfen benötigt."
Der einst so respektable Filmemacher
Oliver Stone gab neulich auf Facebook stolz bekannt, dass er ein langes Interview mit dem verjagten ukrainischen Präsidenten
Viktor Janukowitsch geführt hat (unser
Resümee). Bei dieser Gelegenheit habe sich herausgestellt, dass die ukrainische Revolution ein
Machwerk der CIA gewesen sei. Darüber will Stone einen "Dokumentar"-Film veröffentlichen. Der in Toronto lehrende Historiker
Stephen Velychenko antwortet Stone in
Krytyka (englisch in
Eurozine): "Ich hoffe, Sie werden auch auf die Rolle von
Putins FSB bei der Installierung
Janukowitsch im Jahr 2010 eingehen, und auch auf die Rolle bei seiner Regierungstätigkeit und den Ereignissen von 2013/14. Da Putins Regierung Ihnen offenbar ein Visum und eine
Besuchserlaubnis für
Janukowitsch gegeben hat, sind Ihre Gastgeber ja vielleicht auch bereit, Ihnen Einblick in FSB-Akten zu gewähren."
Der französische Rechtsextremist
Renaud Camus hat in Frankreich auf einer Pressekonferenz die Gründung eines
französischen Pegida-Ablegers bekanntgegeben,
berichtet Thomas Huchon in
Rue89. "Nachdem Camus noch die Verdienste des
Visionärs Putin gewürdigt hat, fügt er hinzu: "Heute erhebt sich im Osten eine große Hoffnung. Sie trägt den Namen Pegida.""
Überwachung, 20.01.2015
Großbritannien entwickelt sich langsam zum Polizeistaat. Nun stellt sich dank Snowden heraus, dass der britische Geheimdienst GCHQ auch in großem Umfang (wenn auch vorerst wohl testweise)
Journalisten-Mails sammelte,
berichtet James Ball im
Guardian. Emails der
BBC, des
Guardian, der
New York Times, der
Sun, von
NBC und der
Washington Post wurden vom GCHQ gesammelt und im Intranet des Geheimdienstes geteilt... Die Mails wurden offenbar abgefangen und abgespeichert, um zu lernen, relevante von irrelevanten Informationen zu scheiden. Neue von Snowden herausgebrachte Dokumente zeigen auch, dass "investigative Journalisten" als eine
Terroristen vergleichbare Bedrohung eingestuft wurden."
Ebenfalls im
Guardian warnt der ehemalige Chefredakteur
Alan Rusbridger, dass sich der britische Journalismus "von Grund auf verändern wird, wenn das Home Office einen Vorschlag zur Aufhebung des
anonymen Quellenschutzes annimmt".
Politik, 20.01.2015
Hannes Hintermeier liest in der
FAZ Mohamedou Ould Slahis Tagebuch aus Guantan
amo - der
reinste Kafka: "Die Anschuldigungen waren von Anfang an vage. Sie lauten auf Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten, Vorbereitung und Beteiligung an Terrorakten, Anwerbung für Al Qaida. Rasch beginnt der Leerlauf in den Verhören. Man kann ihm
nichts beweisen, aber sein Profil ist einfach zu verlockend für die Ermittler." (Mehr dazu
in der Welt.)
Weitere Artikel: Die
Stimme für Raif Badawi zu erheben, den zu 1000 Peitschenhieben verurteilten saudischen Blogger, ist
Pflicht,
ruft Angela Schader in der
NZZ. "Es gibt immer noch Hoffnung, wenn auch dunkel und ermüdet", schreibt der libysche Autor
Hisham Matar in der
FAZ über sein Land. Die meisten Libyer wünschten sich schlicht eine säkulare Demokratie.
Kulturmarkt, 20.01.2015
In der
NZZ untersucht Roman Bucheli die Auswirkung des
aufgewerteten Franken auf den
Buchhandel: "Mit einem Wort: Sie ist eine
Katastrophe. Mag es kurzfristig auch Nutznießer geben, in der langen Frist könnten sich alle auf der Verliererseite finden. Das beginnt bei jenen Verlagen, die einen substanziellen Anteil ihres Umsatzes in Deutschland erzielen (z. B. Diogenes, Kein & Aber, Unionsverlag). Sollte sich der Euro tatsächlich nahe der Parität zum Franken einpendeln, dann verlieren sie nicht nur beim Umsatz, sondern auch
bei der Ertragsmarge, weil die Schere zwischen Kosten in Franken und Erträgen in Euro weit aufgeht."
Ideen, 20.01.2015
Martin Oehlen
war für die
Berliner Zeitung bei der Kölner Lesung
Michel Houellebecqs aus seinem Roman "Unterwerfung". Zu Anfang etwas zögerlich, kam der scheue Autor nach einer Zigarette doch noch in Schwung: "Sehr gerne schaue er sich die Fernsehdebatten an - "aber die sind nur ein Spektakel". Die Parteien, meinte er, "
stehen für nichts mehr". Frankreichs Problem sei es, dass Politik, Medien und Kulturszene seit 40 Jahren ohne Erfolg versuchten, den
Front National aufzuhalten. Was die Rechten so attraktiv mache? "Gute Frage", entfuhr es ihm. "Darüber möchte ich gerne bei einer Zigarette nachdenken." Mit frischem Nikotin im Körper ging es dann gut voran. Attraktiv sei der Front National, weil er die Einwanderung stoppen und die Sicherheit erhöhen wolle. "Es wurde da eine Nostalgie von der Unabhängigkeit des Landes,
unabhängig von Europa und den USA, zurückgebracht." Das sei ein Rückgriff auf die Zeit de Gaulles." Ausführlich dazu auch Oliver Jungen
in der FAZ.
Der "Westen" ist völlig verrottet, geplagt von seiner kolonialen Vergangenheit und unfähig, die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen, erklärt
Pankaj Mishra in einem
epischen Essay im
Guardian. Der Westen solle jetzt die radikale Selbstkritik, wie die Aufklärung sie propagierte, nutzen, um - den Säkularismus abzuschaffen? So ganz klar wird das nicht. "Der Anthropologe
Talal Asad fragte sich anlässlich der Kontroverse um die dänischen Mohammed-Karikaturen, warum unsere
moralische Verpflichtung gegenüber den Machtlosen geringer geschätzt wird als die kämpferische Blasphemie gegen die Religion im Namen des Säkularismus. "Was würde geschehen", fragte er, "wenn die
religiöse Sprache im säkularen Europa ernster genommen würde und der vorhersehbare Tod von Millionen Menschen im globalen Süden, die in Kriegen und am Hunger sterben, als "Blasphemie" angeprangert würde."
Isis verkörpert keineswegs eine Rückkehr zu vormodernen Traditionen, meint
Slavoj Zizek im
Interview mit der
taz. Man sollte sie eher als einen "Fall von
pervertierter Modernisierung verstehen und in einer Reihe mit den konservativen Modernisierungen sehen, die mit der Meiji-Restauration in Japan begann. Das bekannte Foto von Baghdadi, dem Isis-Anführer, mit einer exquisiten Schweizer Uhr am Arm, ist hier emblematisch: Isis ist
gut organisiert in Webpropaganda,
Finanzgeschäften und so weiter. Diese hochmodernen Praktiken werden zur Durchsetzung einer ideologisch-politischen Vision verwendet, die weniger konservativ als vielmehr ein verzweifelter Versuch ist, übersichtliche,
hierarchische Abgrenzungen zu fixieren, um die Religion, Bildung und Sexualität (strenge asymmetrischen Regulierung der sexuellen Differenz, Verbot der säkularen Erziehung) zu regulieren."
Im
Interview mit dem
Freitag fordert der Islamforscher
Muhammad Sameer Murtaza die Muslime auf, sich mit dem Selbstverständnis islamischer Terroristen auseinanderzusetzen: "Wenn wir uns nicht mit der
gewalttätigen Seite beschäftigen, wiederholt sich die Geschichte jedes Mal wieder. Es gibt auch zunehmend muslimische Gelehrte, die versuchen, ein Ethos der Gewaltlosigkeit zu entwickeln. Das erfordert aber
mehr Selbstkritik in der muslimischen Community und eine kritische Reflexion bestimmter Aussagen des Korans."
Man kann jetzt nicht "dauernd allerlei Muslime nach
ihrer Haltung zu den Mohammed-Karikaturen befragen",
meint Marko Martin in der
Welt. Schön wäre es aber, wenn "jugendliche Banlieue-Schüler nicht mehr nachmittags von
üppig auslandsfinanzierten Imamen zu Mordlust, Judenhass und Frauen- und Schwulenverachtung erzogen würden. Dass die Mehrheitsgesellschaft - in der noch immer recht feudal strukturierten Französischen Republik ebenso wie im vermeintlich sozial durchlässigeren Deutschland - endlich gleichberechtigt auf beides setzt:
Restriktion und Inklusion."
Außerdem: In der
SZ stellt
Herfried Münkler die schwerwiegende Frage: "Zwingt der Terror der postheroischen Gesellschaft ein neues Heldentum auf?"
Medien, 20.01.2015
Die
New York Times hat ihre
Bankrotterklärung geschrieben,
erklärt Mathias Döpfner nach Lektüre eines
Leitartikels zu den
Karikaturen in
Charlie Hebdo: Die Autoren überlegen, wie weit Meinungsfreiheit gehen darf, "bis dann ziemlich am Schluss der entscheidende Satz kommt: "Geschmäcker, Standards und Situationen ändern sich, und am besten ist es für Redakteure und Gesellschaften insgesamt, am Ende danach zu urteilen, was
geeignet -
oder sicher - zu drucken ist." (wörtlich: "To judge what is fit - or safe - to print"). Wenn man das dreimal liest, wird klar: Das ist die offizielle Bankrotterklärung, die
finale Unterwerfung der Pressefreiheit gegenüber der terroristischen Gewalt. Denn was in der internationalen Ausgabe der Zeitung erschien, das heißt; Sicherheit ist wichtiger als Wahrheit. Sicherheit ist wichtiger als Freiheit."