9punkt - Die Debattenrundschau

Die einzig vernünftige Devise in einem lächerlichen Zeitalter

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2015. In München herrscht Aufruhr, nachdem Ministerpräsident Seehofer kurzerhand dekretierte, dass es keinen neuen Konzertsaal gibt, berichten SZ und FAZ. Doch doch, es gibt einige Gründe, die für Voltaire sprechen, meint Wolf Lepenies in der Welt. Wolfgang Sofsky findet nicht, dass Angela Merkel die Ukraine zu 28 Jahren Geduld aufrufen sollte. In der NZZ schreibt der jordanische Autor Fakhri Saleh über die Ermordung des Piloten Muas al-Kasasba.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.02.2015 finden Sie hier

Politik

Jean-François Fiorina erzählt auf der französischen huffpo.fr sehr interessante Hintergründe zur Geschichte von Boko Haram und zitiert den Experten Samuel Nguembock: "Die Gruppe konnte sehr von der Durchlässigkeit der Grenzen profitieren, von der mangelnden territorialen Kontrolle und der Korruption, die die nigerianische Armee zerfrisst. So konnte sich die Gruppe auch einige Bodenschätze der Region aneignen, um sich - neben Geldern von slafistischen Organisationen - auch aus eigener Kraft zu finanzieren. Im übrigen hat das Chaos in Libyen der Gruppe erlaubt, sich sehr viele Waffen zu besorgen."

Regisseur Milo Rau zeigt in seinen Reports aus dem Kongo diesmal sehr eindrücklich, was für ein heilloser Schlamassel im Osten des Landes herrscht. Besonders gefürchtet, weiß Rau, sind in der region von Goma die Milizen des Ntabo Ntaberi Sheka: "Obwohl ein gesuchter Kriegsverbrecher, dem alttestamentarische Folterungen und Massenvergewaltigungen zur Last gelegt werden, ist er bei der Bevölkerung beliebt. "Seine Forderungen sind unsere Forderungen", sagt ein Sprecher der Minenarbeiter. Die Forderungen der Bevölkerung sind klar: Sie wollen ihre Schürfrechte nicht verlieren. Nahe Walikale liegt mit Bisie die bedeutendste Zinn- und Coltan-Mine des Kongo, zu Beginn des Jahrtausends lebten über hunderttausend Menschen vom Bergbau. Doch die einheimischen Schürfer wurden ab 2006 von einer Minenfirma vertrieben, unterstützt von der kongolesischen Armee."

Der jordanische Autor Fakhri Saleh schreibt in der NZZ über die grauenvolle Ermordung des Piloten Muas al-Kasasba: "Aus den Reaktionen der Menschen auf der Straße, aus den Kommentaren und Zeitungskolumnen wurde offensichtlich, dass die Jordanier die Botschaft, welche der IS mit dem grauenvollen und unmenschlichen Video hatte aussenden wollen, sehr wohl verstanden hatten - als Einschüchterung und Drohgebärde, als Versuch, den Soldaten noch mehr als der Zivilbevölkerung des Landes Angst einzujagen.

Chinas neue Führung unter Xi Jingping zieht die Daumenschrauben weiter an, berichtet Kai Strittmatter in der SZ, allein im vorigen Jahr wurden tausend Bürgerrechtler festgenommen. Jetzt kommen die Universitäten dran: "Ihre Campus seien die "Fronten" im Schlachtfeld der Ideologie, schrieb Bildungsminister Yuan Guiren den Unidirektoren ins Stammbuch. Er benannte konkret den Feind, den es auszumerzen gelte: westliche Werte und westliche Lehrbücher. Die Direktoren und Parteisekretäre der Hochschulen gelobten umgehend eine Säuberung der Lehrpläne und -säle. Statt westlicher Ideen, sagte der Minister, müsse man mit aller Kraft die Ideen des Marxismus und die von KP-Chef Xi Jinping "in die Klassenzimmer und in die Köpfe" der Studenten treiben."
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Ideen

Doch, es gibt durchaus vernünftige Gründe, die für Voltaire sprechen, findet Wolf Lepenies in der Welt: "Er stellt die Frage, die wir uns im Zeitalter des medienwirksamen Terrorismus immer wieder stellen: "Was soll man einem Menschen antworten, der sagt, dass er lieber Gott als den Menschen gehorchen will und dass er, als Konsequenz, sicher ist, den Himmel zu verdienen, wenn er sie umbringt." Voltaire mit seinem "verzweifelten Realismus" gibt die Antwort, die exemplarisch auch die Karikaturisten von Charlie Hebdo gegeben haben: "Die einzig vernünftige Devise in einem lächerlichen Zeitalter ist, über alles zu lachen.""

Der Satz, der Islam gehört zu Deutschland, fällt hinter die Trennung von Religion und Staat zurück, findet Ulrike Ackermann in einem Kommentar für Dradio Kultur: "Natürlich gehören die rund vier Millionen Muslime, die hier leben, zu Deutschland - als Individuen. Die natürlich auch ihre Religion praktizieren können, wenn dies im Einklang mit dem Grundgesetz steht. Dieses schützt ausdrücklich die Grundrechte von Individuen und nicht von religiösen Kollektiven."
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Internet

Immerhin, die freie Sofware-Bewegung bekommt durch die Geheimdienstaffäre Aufschwung, besonders wenn es um Verschlüsselung eht, konstatiert Constanze Kurz in ihrer FAZ-Kolumne: "In der Post-Snowden-Welt erhöht sich nicht nur die private Spendenbereitschaft für Anti-Überwachungswerkzeuge. Auch ein Umdenken in kommerziellen Kreisen ist zu verzeichnen. Inzwischen kommen Gelder aus der Industrie zur Unterstützung freier Software. Der Milliardenkonzern Facebook kündigte an, jährlich den überschaubaren Betrag von fünfzigtausend Dollar für die Weiterentwicklung von GnuPG bereitzustellen."
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Kulturpolitik

In München - und darüber hinaus - tobt die Diskussion um einen in der Stadt fehlenden Konzertsaal, erzählt Eleonore Büning in der FAZ: "Mit der Wucht des Widerspruchs, die ihm entgegenschlägt, mag nicht einmal Ministerpräsident Horst Seehofer gerechnet haben, als er am Montag verkündete: Der neue Konzertsaal in München wird nicht gebaut. Basta. Seehofer hat ganz offenbar die politische Sprengkraft dieses "weichen" Themas unterschätzt. Auf jeden Fall aber hat er sich bei diesem Alleingang, den er nachträglich von der CSU-Landtagsfraktion absegnen ließ, überschätzt."

Auch Andreas Glas und Christian Krügel berichten in der SZ: "Der Zorn der Konzert- und Kulturfreunde über die Seehofer-Reiter-Vereinbarung reißt nicht ab. Bis zum Sonntagabend hatten mehr als 15.000 Menschen eine Online-Petition für den Bau eines Konzertsaals im Finanzgarten unterschrieben. Erst am Mittwoch hatte die Münchner Pianistin Valentina Babor die Petition ins Netz gestellt."
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Stichwörter: Bayern, München, Seehofer, Horst, Csu

Gesellschaft

Fabien Jannic-Cherbonnel untersucht auf slate.fr den Gebrauch des Begriffs "Islamismus". Ausgangspunkt ist die Überlegung einer muslimischen Journalistin, die sich durch den Begriff in einer französischen Talkshow diskriminiert fühlte: "Was mich stört, ist, dass man bei anderen Religionen einfach von Extremismus spricht. Aber hier basiert der Begriff auf dem des Islams, so dass man denkt, beide seien innerlich verbunden. Die französische Sprache ist reich genug, um einen anderen Begriff zu finden."

Ausführlich widmet sich Andrea Köhler in der NZZ der amerikanischen Debatte um Vergewaltigungen an Universitäten, wo das interne Sanktionierungssystem in keiner Weise zu funktionieren scheint, vor allem nicht an den auf ihren Ruf bedachten privaten Elite-Unis: "An den Universitäten herrscht ein Sexismus, der solche Konsens-Vorschriften weniger ridikül erscheinen lässt. Vom "how-to-rape-guide", den ein Student am Dartmouth College online stellte, bis zum Motto einer Yale-Bruderschaft sind die Beispiele schlagend: "No means yes, yes means anal"."
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Europa

Angela Merkel berief sich in der Münchner Sicherheitskonferenz mit Blick auf die Ukraine auf die Erfahrung des Mauerbaus, bei dem die Amerikaner auch nicht unmittelbar eingegriffen, sondern 28 Jahre gewartet hätten. Am Ende war es allerdings nicht Duldsamkeit, die den Ostblock zerfallen ließ, kommentiert Woflgang Sofsky in seinem Blog: "Fataler indes ist die Botschaft, die Frau Dr. Merkel an Deutschlands ost- und nordeuropäische Nachbarn sendet. Die Ukraine soll sich gefälligst in Geduld üben. Bis zur Befreiung und Befriedung kann es locker noch mal 28 Jahre dauern (1961-1989). Und die Polen, Balten, Bulgaren und so weiter können sich darauf verlassen, dass auch sie im Falle einer Invasion mit deutscher Verteidigungsspeerspitze nicht werden rechnen können."
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