9punkt - Die Debattenrundschau

Unmethode der Buchstabentreue

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2015. Elif Shafak schildert im Guardian den Zorn türkischer Frauen nach der Vergewaltung und Ermordung der Studentin Ozgecan Aslan. Ebenfalls im Guardian erklärt Flemming Rose, warum Blasphemie gerade in multikulturellen Gesellschaften möglich sein muss. Kenan Malik legt in seinem Blog allerdings dar, warum er Multikulti als politisches Konzept ingesamt als gescheitert ansieht. Außerdem: Das TLS entdeckt Max Weber. Blogs wundern sich über sinkenden Traffic. Und die nigerianische Anti-Barbie hat noch Potenzial.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.02.2015 finden Sie hier

Politik

Der Guardian hat heute einen großen Tag mit vier lesenswerten Artikeln!

Elif Shafak schildert den Zorn türkischer Frauen über die Vergewaltigung und Ermordung der Studentin Ozgecan Aslan, die eine regelrechte neue Frauenbewegung auf den Plan gerufen hat und dazu führte, dass sexuelle Belästigung in der Türkei weithin thematisiert wird. Und die Frauen attackieren auch religiöse Autoritäten: "Nach türkischem Islamverständnis müssen Frauen bei Beerdigungen im Hintergrund bleiben und Männer den Sarg tragen und die Gebete sprechen lassen. Diesmal war es anders. Trotz wiederholter Warnungen des Imams weigerten sie sich zurückzutreten und sagten, dass "sie keine andere Männerhand mehr an sie heranlassen" wollten. Frauen trugen ihren Sarg. Frauen beerdigten sie."

Mona Mahmood beschreibt für den Guardian nach Skype-Sitzungen mit Frauen in Raqqa und Mossul den Dresscode des Islamischen Staats: Loses schwarzes Gewand, schwarze Handschuhe, doppelter Gesichtsschleier, so dass auch die Augen verborgen sind. Das macht es für die Männer auch nicht einfacher: "Sabah Nadiem, ein Bürger aus Mossul erzählt: "Einmal ging ich mit meiner Frau in den alten Suk um einzukaufen. Nach einer Weile verlor ich sie aus den Augen. Das Problem war, dass alle Frauen diesen Schleier trugen und dass ich meine Frau nicht erkennen konnte. Ich hatte furchtbare Angst, einen Fehler zu machen und zur falschen Frau zu gehen. Da wäre es ein Desaster, in die Hände der Hisbah-Polizisten zu fallen."

Die Frauenrechtlerin Yifat Susskind erzählt ebenfalls im Guardian, wie ihre Organisation systematische Vergewaltigungen von Frauen durch die IS-Milizen vermindern will - indem sie das Thema enttabuisiert und die betroffenen Communities aufklärt, dass Vergewaltigung keine Schande sei.

Kenan Malik bringt auf seinem Blog einen sehr lesenswerten Essay über das "Scheitern des Multikulturalismus", den er zunächst in Foreign Affairs veröffentlichte. ein Aspekt aus seinen ausführlichen und differenzierten Überlegungen: "Multikulturelle Politik versucht Brücken zwischen Staat und Minderheit zu bauen, indem sie bestimmte Community-Organisationen und -Anführer zu Mittelmännern erklärt. Statt Muslime und andere Minderheiten als Bürger anzusprechen tendieren Politiker zu den Annahme, dass die wahre Loyalität der Minderheiten ihrem Glauben oder ihrer ethnischen Community gilt. Auf diese Weise übergeben Regierungen politische Verantwortung an Minderheitenführer."

In der taz wirft Silke Mertins einen Blick auf die Rivalität zwischen al Qaida und IS um die Vorreiterrolle im globalen Dschihad: "Wer sind die wahren Erben des Al-Qaida-Gründers Osama Bin Laden? Der IS - ursprünglich eine Abspaltung des Netzwerks - macht al-Qaida die Vormachtstellung streitig. Er sieht sich als al-Qaida in cooler, besser und erfolgreicher. Die irgendwo im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet herumvagabundierende Qaida-Führung kämpft dagegen an, von einer noch brutaleren Abzweigung in den Schatten gestellt zu werden."
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Europa

Flemming Rose von der Jyllands-Posten wendet sich im Guardian gegen Politiker, die nach Attentaten wie denen von Paris und Kopenhagen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit verlangen oder sich gar, wie Javier Solanas nach den dänischen Karikaturen, nach Saudi Arabien begeben, um sich zu enschuldigen. "Je vielfältiger eine Gesellschaft, desto vielfältiger das Meinungsspektrum. Die Unterdrückung von Kritik über religiöse, kulturelle oder ideologische Grenzen hinweg wird dem sozialen Frieden sogar schaden, denn sie verstärkt die Identitätspolitik statt unsere gemeinsame Humanität zu betonen."

Christiane Schlötzer freut sich in der SZ, dass in Griechenland "endlich echte Linke" regieren und stellt den Kader mit seinen politischen Biografien vor.
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Religion

Der Theologe Halis Albayrak aus Ankara schreibt in der FAZ an die Adresse all jener Dschihadisten, die seine Botschaft hören mögen, dass man den Koran besser nicht wörtlich nimmt: "Wenn wir jeden Vers so, das heißt: in seinem eigenen Kontext und in seinem existentiellen Bezugsrahmen lesen, können wir auch das Ziel des Wortes nachvollziehen. Lesen wir den Koran aber mit der Unmethode der Buchstabentreue, dann beginnen wir, dem Text unsere eigenen Absichten aufzuzwingen."

Daniela Segenreich-Horsky beschreibt in der NZZ, wie die israelische Werbung das ultrareligiöse Spektrum als Markt erschließt: Nur wer einen Abschnitt der Thora richtig auswendig gelernt hat, bekommt einen Schokoriegel!
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Geschichte

Zwanzig Jahre nach dem Attentat auf eine Roma-Siedlung im Burgenland widmet das Wien Museum der Geschichte von Sinti und Roma eine Ausstellung "Romane Thana", berichtet Ralf Leonard in der taz: "Seit ihrem Auftauchen in Europa werden die Wandervölker aus Asien, die sich anfangs als Ägypter ausgaben, als unerwünschte Fremde betrachtet. Sie haben zwar nie Gebietsansprüche gestellt oder einen Krieg vom Zaun gebrochen, konnten aber ihre Herkunft nicht überzeugend nachweisen. "Wer als Volk in Europa an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit Anerkennung finden will, muss in der Lage sein, über seine Abstammung Auskunft zu geben: am besten in Gestalt eines Epos, wie der Aeneis", wagt der deutsche Literaturwissenschaftler und Suhrkamp-Autor Klaus-Michael Bogdal im Katalog eine Deutung."

Nach einem Ausbruch des Volcan de Fuego vor zehn Tagen auf Guatemala, erinnert Roman Hollenstein in der NZZ an die "in ihrer fragilen Schönheit einzigartige", jedoch ewig von Vulkanen und Erdbeben bedrohte Kolonialstadt Antigua.
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Internet

(Via Mediagazer) Marco Arment thematisiert in seinem Blog ein weithin beschwiegenes Phänomen: Der Traffic von Blogs und Websites steigt nicht mehr oder sinkt sogar. Dafür wird oft die nur noch auf Werbung konzentrierte Suchmaschine Google verantwortlich gemacht, aber Arment sieht das anders: "Google mag das Problem verschlimmern, aber es ist nicht seine Wurzel. In Wirklichkeit ist das Phänomen für Google selbst ein Problem. Fast jeder verbringt immer mehr Zeit mit kleinteiligem Content aus Apps, statt von Website zu Website zu browsen. Medien stützen sich stärker auf sozialen Traffic - nicht weil Google sie verdrängte, sondern weil jeder dahin gegangen ist. Die Dominanz der Mobilnutzung, der sozialen Netze und von Youtube plus die Konkurrenz der Apps sind das reale Problem von Webpublizisten und Bloggern."
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Medien

Anja Reschke von Panorama und Zapp hat in Reaktion auf Sebastian Heisers Artikel über schleichwerbeähnliche Praktiken bei der SZ (wir zitierten) getwittert: "2007 Redakteur bei der SZ - jetzt der Skandal? Ich frage mich, warum der Autor 8 ganze Jahre gewartet hat, um #szleaks zu enthüllen." Heiser dokumentiert auf seinem Blog eine Mail aus dem Jahr 2009, wo er Anja Reschke das Thema anbot.

(Via Wolfgang Blau) Bei Open Democracy erzählt der bekannte Journalist Peter Oborne, warum er beim Telegraph kündigt - die Zeitung hatte ein allzu prächtiges Verhältnis zur HSBC-Bank, die durch ihre Schwarzgeldkonten ins Gerede kam.
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Ideen

Geradezu überwältigt liest Duncan Kelly im Times Literary Magazine eine große Max-Weber-Biografie von Peter Ghosh. Weber selbst empfiehlt er, weil man nirgendwo so viel über die individuelle Persönlichkeit und ihrer Beziehung zur Welt lernen können wie in seinen Aufsätzen "Wissenschaft als Beruf" und "Politik als Beruf": "Sowohl beim Wissenschaftler als auch beim Politiker müssen Leidenschaft und Berufung mit einem kühleren Bedürfnis nach Objektivität und Verantwortung einhergehen. In der Kombination nehmen beide unterschiedliche Fromen an, zum teil weil ihnen unterschiedliche Mittel zur Verfügung stehen, Gewalt und Staatsmacht auf der einen Seite, Intellekt und akademische Integrität. Beide Berufungen reichen zu jenen Ideen zurück, die Weber zuerst in der "Protestantischen Ethik" darlegte, in der ein ursprünglich religiöser Kosmos, welcher der puritanischen Welt und ihrer Lebensführung einen Rahmen gab, zu einer neuen und stählernen Umgebung für jedermann wurde. Webers Geschichte der Gegenwart zielte auf die berühmte Schlussfolgerung der "Protestantischen Ethik", in der er schrieb, dass die Puritaner einer Bestimmung folgten , heute sind wir einfach dazu gezwungen."
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Gesellschaft

Im FR-Interview mit Michael Hesse spricht der Soziologe Heinz Bude über die zerklüftete Gesellschaft im Osten: "Die ostdeutsche Soziallandschaft ist derart fragmentiert, dass von gemeinsamen Ideen und Interessen keine Rede mehr sein kann. Die Lebensverhältnisse in Dresden-Neustadt haben mit denen in Parchim nichts mehr zu tun. Es sind ganz unterschiedliche Welten, die mit der Klammer Ostdeutschland nicht mehr zusammengehalten werden können."

In der SZ ärgert sich Till Briegleb zwar, dass der Begriff "Gesindel" am Hamburger Institut für Sozialforschung wie eine soziologische Kategorie benutzt wird, hat ansonsten aber auf der Tagung zu "Politischer Gewalt im urbanen Raum" in Frankreich und Deutschland viel Interessantes erfahren: "Insbesondere die Frage, warum Deutschland so relativ friedlich ist und Frankreich ständig aufgewühlt, erfuhr sehr konkrete Antworten für die potenziellen Konfliktparteien. In Frankreich haben die Nachkommen nordafrikanischer Einwanderer zwar Zugang zu Bildung, aber danach nicht zum Arbeitsmarkt, was die soziale Frustration deutlich verstärkt, während die "ethnischen" Barrieren zum Berufsleben in Deutschland bei Weitem nicht so hoch sind."

Auf Zeit.de stellt Katharina Pfannkuch eine nigerianische Anti-Barbie-Puppe vor, die dem westlichen Schönheitsideal etwas entgegensetzen will. Bei der Emanzipation der Frauen gibt"s in dem Land aber noch weiteres Potenzial: "Vor 13 Jahren verkündete die Regierung unter Olusegun Obasanjo, den Frauenanteil im Parlament um 30 Prozent anheben zu wollen. Tatsächlich vergab Nigerias amtierender Präsident Goodluck Ebele Jonathan 2011 sogar ein Drittel der Positionen im Kabinett an Frauen. Diese Entwicklung hat jedoch einen Schönheitsfehler: Eine nigerianische Frau kann nur in dem Wahlbezirk kandidieren, in dem ihr Vater oder aber ihr Ehemann registriert ist."

In der NZZ meldet Joachim Güntner mit verhaltener Freude, dass der Kölner Karneval Weltkulturerbe wird.
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