9punkt - Die Debattenrundschau

Die Masse zwischen den Polen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2015. Meinungsfreiheit schreibt sich nicht mit "aber" und kann nicht auf Vielfalt oder Gefühle Rücksicht nehmen, meint Kenan Malik in seinem Blog. Die Zeit versucht herauszufinden, was die Öffentlich-Rechtlichen außer Quote wollen, aber niemand will es ihr sagen. Ebenfalls in der Zeit kritisiert Jörg Baberwoski die westliche Position zu Russland. Die Franzosen waren weder tous collabos noch tous résistants, findet laut NZZ eine Ausstellung über das Vichy-Regime heraus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2015 finden Sie hier

Europa

Kenan Malik schreibt in seinem neuesten Blogbeitrag gegen das Wörtchen "aber" an. Den Satz "Ich bin für Meinungsfreiheit, aber..." will er nicht anerkennen. Zum Beispiel will er auch kein "aber" aus "Rücksicht" auf religiöse "Gefühle". Das Argument lautet dann häufig, dass man sich in einer vielfältigen Gesellschaft zurückhalten solle: "Das Gegenteil ist der Fall. Gerade weil wir in einer pluralen Gesellschaft lebt, brauchen wir eine möglichst weit konzipierte Meinungsfreiheit. In einer pluralen Gesellschaft ist Beleidigung zugleich unvermeidlich und wichtig. Unvermeidlich, weil Auseinandersetzungen bei verschiedenen tief empfundenen Glaubenssätzen unausbleiblich sind. Per definitionem zeigen solche Auseinandersetzungen, was es heißt, in einer vielfältigen Gesellschaft zu leben. Und man führt sie besser offen, als sie im Namen von "Respekt" oder "Toleranz" zu unterdrücken."

"Der Westen kapiert es nicht", überschreibt die Zeit einen Beitrag des Historikers Jörg Baberowski, der die Eskalation in der Ukraine auf fatale Fehleinschätzungen des Westens zurückführt: "In Washington und Brüssel gab es wenig Zweifel: Die Ukraine müsse gegen einen Aggressor, der ihre nationale Integrität bedrohe, verteidigt werden. Sanktionen statt Verhandlungen - so lautete die Strategie des Westens gegenüber Russland. Diese Haltung aber bestätigte Putin und seine Regierung in all ihren Obsessionen: dass die Nato und die EU die Ukraine aus dem Einflussbereich des ehemaligen sowjetischen Imperiums herauslösen und ihre militärische Präsenz bis an Dnjepr und Don ausweiten werde, auf den historischen Kern des russischen Vielvölkerreicehs." Bereits vor einem Jahr hat Baberowski in der Zeit bezweifelt, dass die Ukraine ein souveräner Nationalstaat sei.
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Politik

Die westliche Öffentlichkeit ist zu sehr auf die Untaten der IS-Miliz fokussiert und erkennt nicht, dass etwa der Iran im Irak und in Syrien inzwischen der große Profiteur ist, schreibt Richard Herzinger in der Welt. Und da ist noch ein Akteur: "So sehr ist die Weltöffentlichkeit ... von den Untaten des IS gefesselt, dass Assad seine mörderische Repression fast unbemerkt weiter steigern kann. Im vergangenen Jahr wurden in Syrien 2100 Menschen von den Schergen des Regimes zu Tode gefoltert. In den zurückliegenden vier Jahren sind in syrischen Kerkern um die 12.000 Inhaftierte durch Folter, Hunger und fehlende medizinische Versorgung umgekommen."

Die Israelis sind bereit, für den Frieden mit den Palästinensern Kompromisse einzugehen, aber aus Gründen der Sicherheit werden sie bei den anstehenden Neuwahlen erneut eine rechte Regierung wählen, prognostiziert Avi Primor im Gespräch mit Natascha Freundel in der Berliner Zeitung. Doch auch ein Rechtsruck könnte langfristig den Konflikt lösen, glaubt Primor: "Wenn das rechte Lager an die Macht kommt, und vielleicht noch mächtiger, ohne Partner aus dem Zentrum, dann rutschen wir in Richtung eines binationalen Staates. Wir werden schrittweise das Westjordanland annektieren. Dann haben wir eine neue Bevölkerung, die die israelische Staatsangehörigkeit bekommen wird. Man wird ihnen Gleichberechtigung geben, ohne sie immer zu respektieren. Aber sie werden wählen dürfen, und da sie eine rasante demografische Entwicklung haben, werden sie in kurzer Zeit die Mehrheit der Israelis sein. Und dann könnten sie in unserem Parlament in Jerusalem den jüdischen Staat legal abschaffen."
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Geschichte

Das französische Nationalarchiv befasst sich in einer Ausstellung mit der Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem NS-Staat, berichtet Claudia Mäder in der NZZ: ""Les Français tous collabos?", fragen die Ausstellungsmacher am Schluss. Und verneinen klar: Die aktive Kollaboration sei ein Minderheitenphänomen gewesen, genauso wie der aktive Widerstand, der am anderen Ende des Verhaltensspektrums steht. Damit ist freilich noch nichts über die Masse zwischen den Polen gesagt, und so heilsam der differenzierende Blick für die kollektive Neurose sein mag, so einfach macht es die Fragmentarisierung dem Durchschnitt, sich unangenehmen Fragen zu entziehen."
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Stichwörter: Vichy-Regime, Kollaboration

Urheberrecht

Der Jurist und Autor Thomas Elbel wendet sich bei Carta gegen die "Netzpolitikklüngel" aller Parteien, besonders aber gegen die Europaabgeordnete Julia Reda von der Piratenpartei, die ein "Recht auf Remix" reklamiert, das Elbel im Namen seines Urheberrechts aber nicht konzedieren will: "Warum sich übrigens die Netzpolitik so prominent in das Remixthema verbeißt, ist mir ein Rätsel. In der Musik mag es einigermaßen virulent sein, aber in anderen Kreativsparten?" Äh, da empfehlen wir zum Beispiel mal einen Blick auf die Romane von Peter Esterhazy!
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Medien

Eigentlich haben die Öffentlich-Rechtlichen einen Bildungsauftrag, in Wirklichkeit zählen aber nur die Quoten, schon um die in Frage stehende Existenzberechtigung nachzuweisen. Der NDR richtet sich dafür an einer fiktiven "Familie Westermann" aus, deren Oberhäupter 50 bis 59 sind. So will der Sender das Durchschnittsalter seines Publikums, das über 60 liegt, milde senken. Anne Kunze und Kilian Trotier haben für die Zeit beim NDR recherchiert und einen spannenden großen Artikel für den Wirtschaftsteil zustande gebracht. Aber einfach war"s nicht: "Obwohl beim NDR alle Mitarbeiter den Druck der Quote kennen, obwohl viele in Gesprächen über das "System" klagen, das schwerfällig sei und Innovationen unterdrücke, ist eine Recherche im Inneren des Apparates mühsam. Nur wenige der Verantwortlichen sind bereit, offen zu sprechen. Die Redakteure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind zwar quasi unkündbar. Aber kaum einer von ihnen stellt sich hin und sagt: Ich will, dass wir diese Sendung machen, ich will, dass wir jene Serie wagen. Umgekehrt gibt es wortgewaltige und hochprofessionelle Macher, die mit guten Argumenten das Primat der Quote vertreten, aber nicht bereit sind, sich damit zitieren zu lassen."

Charlotte Theile stellt in der SZ den neuen Chefredakteur der NZZ, Eric Gujer, vor und zitiert ihn mit den Worten: "Wir müssen digital schneller und besser werden. Zudem stehen wir vor dem Relaunch des Printprodukts. Besonders am Wochenende wollen wir mehr auf die Leser eingehen."
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Ideen

In der Zeit ruft der Philosoph Rainer Marten die Verwalter dazu auf, den Nachlass von Martin Heidegger zu veröffentlichen oder für die Forschung freizugeben: "Heidegger selbst hat darauf Anspruch, bis auf den letzten Halbsatz, der in Marbach verwahrt ist, für die Öffentlichkeit, zumal für die Forschung, zugänglich zu sein." Außerdem spricht die Philosophin Marion Heinz mit Thomas Assheuer über Heideggers Briefe an seinen Bruder Fritz, aus denen ohne Erlaubnis der Erben allerdings bis 2046 nicht zitiert werden darf.
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