9punkt - Die Debattenrundschau

Die schönste Kopie der Welt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2015. In der NZZ erklärt Swetlana Alexijewitsch den Weg von Diplomatie und Dialog mit Russland für gescheitert. Peter Sloterdijk plädiert im Tages-Anzeiger dafür, den Terrorismus aus den Schlagzeilen zu verbannen. Pascale Hugues und Michael Müller machen sich im Tagesspiegel Gedanken zum Berliner Stadtschloss. Und die Große Koalition sucht nach akzeptablen Anlässen für Vorratsdatenspeicherung, berichtet die Rheinische Post.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2015 finden Sie hier

Europa

"Mit dem Nationalismus und Militarismus ist Russland zurückgerutscht in seinen natürlichen Zustand", sagte die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch am vergangenen Wochenende im Stuttgarter Literaturhaus in einem sehr interessanten und ziemlich entmutigenden Gespräch mit Andreas Breitenstein, das die NZZ heute abdruckt: "Die Menschen im Westen möchten ganz normal friedlich leben, und die Russen sind bereit, für eine heroische Idee zu sterben. Das ist eine fundamentale Differenz. Der Westen muss an seinen Sanktionen gegen Russland festhalten, vielleicht etwas konsequenter und härter. Es ist klar, dass Putin weitermachen wird. Man sollte die ukrainische Armee mit modernen Defensivwaffen ausrüsten und sie ausbilden. Der Westen muss sich von der Illusion verabschieden, dass Diplomatie und Dialog zu einer Lösung führen werden. Es gibt diese Erfahrung in der bellizistischen russischen Gesellschaft nicht, und schon gar nicht in der fanatisierten russischen Politik. Die Sache ist mit Reden nicht zu stoppen."

Der Mord an Boris Nemzov zeigt, dass sich Russland zu einer "ideologiegetriebenen Diktatur der reinen Selbsterhaltung" entwickelt hat, deren entscheidendes Ordnungsprinzip die Feindschaft zum politischen Gegner ist, schreibt Alexander Baunov in der taz: "Die ausländische Presse ist der Ansicht, dass mit Nemzow der wichtigste Rivale von Putin getötet wurde. Das ist aus russischer Sicht zu kurz gedacht: Russland hat kein System, worin Putin ein Rivale erstehen könnte. Nichtsdestoweniger offenbart der Mord die Verschiebungen im Vergleich zu der von Putin angeführten sogenannten Stabilität. War diese früher im ökonomischen Wachstum begründet, basiert sie inzwischen darauf, die Bevölkerung gegen den inneren Feind aufzuhetzen. Aber wenn die Bevölkerung gegeneinander aufgehetzt wird - von welcher Stabilität reden wir dann noch?" (Bei Carnegie.ru erschien der Text im russischen Original.)

In der SZ schildert Tim Neshitov die "verzweifelte Suche des Kreml nach staatlicher Spiritualität", die eigentümliche Allianz mit der Orthodoxie und die Hetze der orthodoxen Kirche gegen Kunstschaffende.
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Gesellschaft

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen ein pauschales Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen stößt bei den Kommentatoren auf Zustimmung. "Im Kontext der jüngsten Debatten um eine Islamisierung des Abendlandes werden aus Sicht der Verfassung die Proportionen zurechtgerückt", meint Christian Geyer-Hindemith auf FAZ.net, und Heide Oestreich freut sich in der taz, dass das Urteil "nebenbei auch mit der Diskriminierung von Frauen Schluss macht. Denn nur Frauen leiden unter dem Kopftuchverbot. Für fundamentalistische Bartträger war es nie vorgesehen."

Für den Tagesspiegel spricht Claudia Keller mit Ehrhart Körting, der als Innensenator 2005 maßgeblich am Berliner Neutralitätsgesetz beteiligt war, das Lehrern an öffentlichen Schulen das Tragen von sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbolen untersagt. Mit dem Abstand von zehn Jahren fragt er sich, "ob das Gesetz nicht das Gegenteil von dem bewirkt, was wir uns erhofft hatten. Dass es nämlich nicht die Emanzipation von muslimischen Mädchen und Frauen fördert, sondern eher behindert. Mir haben viele Frauen aus konservativen muslimischen Elternhäusern erzählt, dass der Lehrerberuf für sie eine der wenigen Möglichkeiten ist, sich von zuhause zu emanzipieren. Aber gerade diesen Weg haben wir ihnen mit dem bisherigen Kopftuchverbot erschwert."
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Medien

"Terror ist ja nichts anderes als angewandte Medienanalyse", sagt der Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch mit Rudolf Burger (Tages-Anzeiger) und plädiert dafür, dem Kalkül der Terroristen nicht zu folgen: "Je abscheulicher eine Tat, desto höher die Aufmerksamkeitsprämie, die dafür in den Massenmedien vergeben wird. Das halte ich für eine fundamentale Perversion des modernen Aufmerksamkeitssystems. Deswegen sage ich: 9/11 gehört auf die Seite 8 oder 10 oder 12 - je weiter hinten, desto besser. Alles andere ergibt Selbstvergiftung. Schreiben wir es auf die Seite 1, belohnen wir das Verbrechen. Das Wertvollste, das wir haben, sind unsere Aufmerksamkeit und unsere Empathie. Beides dürfen wir nicht ausgerechnet für die größten Gemeinheiten verausgaben."

In der SZ berichtet Willi Winkler über den Fall des New Yorker Kunstkritikers Jerry Saltz, dessen Facebook-Account zwischenzeitlich gesperrt wurde (unser Resümee), weil Saltz mit der Veröffentlichung spätmittelalterliche Gemälde von Folterszenen provozierte: "Facebook fühlt sich - es sei denn, die NSA klopfte - der Neutralität verpflichtet, ist also auch der Kunst gegenüber fühllos. Facebook, heißt es auf der Website der deutschen Ausgabe, "verfolgt (!) strikte Richtlinien gegen das Teilen pornografischer Inhalte sowie jedweder sexueller Inhalte, wenn Minderjährige beteiligt sind. Darüber hinaus", und jetzt wird es so vage, wie das nur ausgefuchste Juristen formulieren können, "legen wir Grenzen für die Darstellung von Nacktheit fest."" Auf Vulture berichtet Saltz selbst von den Umständen seiner Sperrung. (Mit dem Gemälde "Judith mit dem Kopf des Holofernes" aus der Chronik von Baudouin d"Avesnes, ca. 1473-1480, feierte Saltz vergangene Woche den Weltfrauentag.)
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Kulturpolitik

Wie die IS-Miliz die historischen Stätten zerstören, so haben auch die Deutschen versucht, mit dem Abriss erst des Stadtschlosses, dann des Palasts der Republik ihre Geschichte auszuradieren, schreibt Pascale Hugues im Tagesspiegel. Dass das Schloss jetzt wieder aufgebaut wird, beweist für sie nur das schwierige Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit: "Natürlich kann man eine perfekte optische Täuschung errichten, technische Großtaten vollbringen, einen soliden Finanzierungsplan aufstellen und im Vorübergehen das asbestverseuchte Wrack des Palastes der Republik abreißen, um den Schatten der DDR zu beseitigen. Aber letzten Endes wird man nur eine Schimäre hervorbringen. Die schönste Kopie der Welt wird den Schmerz des Verlustes nicht auslöschen können."

Ebenfalls im Tagesspiegel präsentiert Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller seine Vorstellungen für das Innere des rekonstruierten Schlosses: "Eine Ausstellung, in der Erzählungen gebündelt werden, die den Lebens- und Kulturraum Berlin in seiner Beziehung zu Deutschland differenziert, reflektiert und zugleich sinnlich darstellen. Also kein Stadtmuseum, kein Rückgriff auf die Gestaltungstradition des 19. Jahrhunderts, sondern eine moderne Bearbeitung des "Deutschen Labors Berlin" nach den Ideen der Humboldts."
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Überwachung

Nachdem in dieser Woche Gerichte in Bulgarien und den Niederlanden das anlasslose Speichern von Nutzerdaten untersagt haben (mehr hier), hat die EU-Kommission beschlossen, den Mitgliedstaaten keine Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung zu machen, und ihnen damit Spielraum für eigene Regelungen gegeben, meldet Tilman Stefen auf Zeit digital. In der Rheinischen Post berichtet Gregor Mayntz von Überlegungen in der Großen Koalition über eine abgespeckte Version der Vorratsdatenspeicherung, bei der Daten nicht mehr anlasslos gesammeln würden: "Die Minister lassen ihre Juristen gerade ausloten, was denn künftig akzeptable "Anlässe" sein könnten: zeitlich eingrenzbare Großereignisse mit Gefahrenpotenzial? Hinweise auf regional besonders auffällige Gefährdungslagen, wie unlängst in Bremen, als bevorstehende Anschläge befürchtet wurden? Oder von Islamisten bevorzugte Kommunikationskanäle, wenn konkreter Anlass zur Sorge besteht?"
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