9punkt - Die Debattenrundschau

Dann baut halt jeder eine Atombombe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2015. Wie lange soll das Flüchtlingssterben im Mittelmeer noch weitergehen, fragen einige Politikerinnen in der Huffpo.fr und der Soziologe Ludger Pries in der FAZ. Spiegel Online fürchtet, dass die deutsche Regierung vor Tayyip Erdogan kuscht und den Völkermord an den Armeniern nicht beim Namen nennt. In der taz fordert die Techniksoziologin Zeynep Tufekci mehr Kontrolle über die Algorithmen. In der Zeit wehrt sich Tim Renner mit Popkultur gegen Claus Peymann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.04.2015 finden Sie hier

Europa

Im Mittelmeer ist vor einigen Tagen wieder ein Schiff havariert. 400 Personen sollen ums Leben gekommen sein, ohne die Weltöffentlichkeit allzusehr aufzustöbern. Manon Bouriad interviewt für Libération Florence Kim von der Internationalen Organisation für Migration: "Nach unseren Berechnungen sind fast 900 Personen durch Schiffsunglücke seit Januar umgekommen. Das sind 18 mal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs." Die EU-Abgeordnete Eva Joly und einige ihrer Kolleginnen fragen in einem Aufruf in der Huffpo.fr: "Wieviele Tote muss es im Mittelmeer noch geben, bevor die Europäische Union einen legalen Weg für Flüchtlinge und Asylsuchende einrichtet?"

Der Soziologe Ludger Pries schreibt in der FAZ zu dem Thema: "Bei den in Europa ankommenden Flüchtlingen handelt es sich fast immer um Menschen, die aus religiöser, politischer oder ethnischer Verfolgung oder aber aus wirtschaftlicher Not geflohen sind. Anstatt die Grenzzäune immer höher zu bauen, sollte die EU offensiver in den Herkunftsländern über bereits bestehenden Möglichkeiten der legalen Einwanderung informieren."

(Via turi2) Ein unbekannter dpa-Korrespondent liest (hier bei rp-online) das letzte Buch des Karikaturisten Charb, in dem er sich mit Kritik an Mohammed-Karikaturen auseinandersetzt: "Charb warf Kritikern einen "verabscheuungswürdigen Paternalismus des bourgeoisen, weißen, linken Intellektuellen" vor. Er verteidigte die Auffassung, den Islam in der Berichterstattung nicht anders zu behandeln als andere Religionen: "Wenn man signalisiert, dass man über alles lachen kann, außer über bestimmte Aspekte des Islam, weil die Muslime viel empfindlicher sind als der Rest der Bevölkerung, was ist das dann, wenn nicht Diskriminierung?"" Hier Auszüge beim NouvelObs.
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Medien

Christian Meier kommentiert in der Welt die Meldung, dass drei der vier Augstein-Erben ihre Anteile (18 Prozent) am Spiegel verkaufen wollen: "Für das Nachrichtenmagazin ist dies nicht nur aus symbolischen Gründen ein Paukenschlag. Mit Ausnahme der Journalistin Franziska Augstein, die für die Süddeutsche Zeitung arbeitet, entziehen die Erben des wichtigsten deutschen Magazins dem Verlag gewissermaßen ihr Vertrauen."
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Ideen

Der Antisemitismus, der sich in Martin Heideggers unlängst veröffentlichten "Schwarzen Heften" offenbart, hat das Fach aufgeschreckt. Für den Philosophen Manfred Geier ist Heideggers Antisemitismus allerdings ein Missverständnis, das er in der SZ auszuräumen versucht: "Es war keine rassistische oder antisemitische Grundhaltung, keine menschenverachtende Gewaltfantasie, kein kriegerischer Eroberungswillen und kein fremdenfeindliches Hassgefühl, die Heidegger charakterisierten und die ihn zum Nationalsozialisten werden ließen. Stattdessen versuchte er mit seinem Wirken und seinem Werk, vor allem von 1929 bis 1935, ein metaphysisches Denken zu praktizieren, das aus menschlichen Grundstimmungen seine Energie bezog. Davon kann man immer noch fasziniert sein."

"Niemand konnte Nazi sein, ohne Antisemit zu sein, weil die Verkettung von Nazismus und Antisemitismus fundamental war", hält ihm jedoch Cord Riechelmann in der taz entgegen. "Deshalb ist es schlicht obszön, jetzt in liberal sich gebenden Magazinen einen Satz lesen zu müssen, in dem es heißt, die "Schwarzen Hefte" belegten bei Heidegger einen "Antisemitismus über das bisher bekannte Maß hinaus"."
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Internet

Ohne dass wir es merken, nimmt der Einfluss von Algorithmen immer zu, sagt die Techniksoziologin Zeynep Tufekci im Gespräch mit Meike Laaff (taz). Tufekci macht auf mögliche Konsequenzen von immer handlungsmächtigeren Algorithmen aufmerksam und fordert mehr Kontrolle und Transparenz: "Die Leute in der Wissenschaftscommunity könnten sich weigern, daran zu arbeiten. Unternehmen können sich selbst regulieren und Verhaltenskodizes entwickeln, so wie im Bereich Nukleartechnologie. Regierungen können Gesetze erlassen, die besagen, dass man nichts verkauft bekommt, wenn automatische Erfassung stattfindet. Wenn wir den Maschinen Entscheidungen mit so weitreichenden Konsequenzen anvertrauen, dann brauchen wir irgendeine Form von Zugang, von Überprüfung und von Transparenz. Das sind schwierige Fragen. Aber so war das auch bei Nuklearwaffen. Und da haben wir auch nicht gesagt: Dann baut halt jeder eine Atombombe, und wir schauen, was passiert."
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Überwachung

Sascha Lobo wendet sich in seiner Spiegel-Online-Kolumne direkt an seine Leser, um sie dringlich vor der von SPD-Justiziminister Heiko Maas betriebenen neuen Vorratsdatenspeicherung zu warnen: "Sie erlaubt offiziell, Unverdächtige zu überwachen... Wie problematisch das ist, erkennt man an einem Satz, den Sie eventuell selbst schon gedacht haben: "Ich habe doch nichts zu verbergen." Die Schriftstellerin Juli Zeh hat übersetzt, was dieser Gedanke bedeutet: "Ich tue, was von mir verlangt wird." Wer einverstanden ist, überwacht zu werden, ist mit allem einverstanden."

Dabei ist die Vorratsdatenspeicherung den Beweis für ihre Relevanz für die innere Sicherheit bislang schuldig geblieben, meint Nico Lumma, der Vorsitzende des SPD-nahen Datenschutz-Vereins D64, im Interview mit Tobias Schulze in der taz: "Weder hier noch im Ausland hat sie irgendwelche Erfolge gebracht. Man will dem Volk nur zeigen: Wir sorgen uns um die innere Sicherheit, wir machen etwas. Ein reines Placebo-Thema. Stattdessen müssten die Ermittlungsbehörden in die Lage versetzt werden, auch im digitalen Raum zu ermitteln. Da fehlt es an allen Ecken und Enden, selbst bei schwersten Straftaten sind nicht genügend Ermittler zu digitalen Ermittlungen in der Lage."
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Geschichte

Die deutsche Regierung kuscht vor Recep Tayyip Erdogan und wird den Völkermord an den Armeniern wohl nicht beim Namen nennen, schreibt Hasnain Kazim bei Spiegel Online: "Die deutsche Politik will am Freitag kommender Woche der Opfer dieser Geschehnisse gedenken. Im Bundestag ist eine einstündige Debatte geplant, im Anschluss soll eine Erklärung beschlossen werden. Das Wort Völkermord, sagen Abgeordnete aus Union und SPD, habe im ersten Entwurf zwar gestanden, sei dann aber gestrichen worden - aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten in der Türkei." Kazim zitiert auch den Journalisten Jürgen Gottschlich, der in einem Buch zur deutschen Kollaboration im Völkermord recherchiert hat, mehr im Tagesspiegel.
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Kulturpolitik

"Kaufen Sie sich mal wieder eine Hose, Claus Peymann", antwortet der Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner in der Zeit auf die Attacke, die Peymann vorige Woche ebenda gegen ihn vorgetragen hat (unser Resümee): "In einer Stadt, die immer noch über 60 Milliarden Euro Schulden abbauen muss, gilt es zu vermitteln, dass Ausgaben in Kultur keine Subventionen, sondern Investitionen sind. Das kann im Bereich des Theaters nur gelingen, wenn man für viele Menschen relevant ist und Themen setzt. Relevanz erzielt das Theater aber nicht, indem man alte Gräben zwischen sogenannten Bildungsbürgern und mit Popkultur sozialisierten Menschen aufmacht, wie es Claus Peymann zwischen sich und mir zu tun versucht."

In der SZ zeigt sich auch Peter Laudenbach skeptisch angesichts der Pläne, die Renner für die Berliner Volksbühne möglicherweise hat. In der Berliner Zeitung kritisiert Nikolaus Bernau die Öffentlichkeitsarbeit und Geldverschwendung des Berliner Senats im Zusammenhang mit dem Stadtschloss und beklagt in der Planung ein "bizarres Kuddelmuddel von Zuständigkeiten".
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