9punkt - Die Debattenrundschau

Jupiterhistorie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2015. Scharfe Kontroverse in den USA über die Frage, ob der PEN Club Charlie Hebdo ehren soll. Sechs Autoren haben bekanntgegeben, dass sie die Gala boykottieren. Die FAZ freut sich. Salman Rushdie nennt sie Pussies. Glenn Greenwald vermisst die Verteidigung antisemitischer Witze. Das andere große Thema: Kurz vor den EU-Prozessen zu Googles Marktmacht schließt der Konzern einen Pakt mit acht europäischen Zeitungen, darunter die FAZ und die Zeit, und lässt 150 Millionen Euro für einen "Innovationsfonds" regnen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2015 finden Sie hier

Ideen

Peter Carey, Michael Ondaatje, Francine Prose, Teju Cole, Rachel Kushner und Taiye Selasi haben bekanntgegeben, dass sie der New Yorker PEN-Gala fernbleiben, um sich von der Ehrung für Charlie Hebdo bei dieser Veranstaltung zu distanzieren (unser Resümee gestern). Padraig Reidy hat dazu in Little Atoms eine ziemlich klare Meinung: "Wenn man keine Solidarität mit Leuten ausdrücken kann, die für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ermordet wurden, dann ist man nicht für freie Meinungsäußerung. So einfach ist das. Ich frage mich, ob sich Carey und andere so winden, weil Einfachheit unattraktiv ist. "Welche Perspektive ist interessant, was kann ich einbringen?", fragen sie sich. Aber während sie Einfachheit zurückweisen, entscheiden sie sich für Gewissheit. Sie sind sicher, dass sie niemals Charb, Charlie oder Rushdie sein werden."

Padraig zitiert Salman Rushdie, dessen Statement recht deutlich ist: "Wenn der PEN als Free-Speech-Organisation nicht Leute ehren und feiern darf, die umgebracht wurden, weil sie Bilder zeichneten, dann ist die Organisation ihren Namen nicht wert. Zu Peter, Michael und den anderen kann ich nur sagen: Ich hoffe für sie, dass man nicht irgendwann hinter ihnen her ist."

Eine nützliche Zusammenfassung der Kontroverse bringen Alison Flood und Alan Yuhas im Guardian. Sie verlinken auch auf die Äußerung Peter Careys in der New York Times, der sich "über die Blindheit des PEN über die kulturelle Arroganz der französischen Nation" beschwert.

Der Überwachungs- und Israelkritiker Glenn Greenwald sammelt auf The Intercept Briefe von PEN-Gala-Boykotteuren. Teju Cole schreibt demnach: "Ich bin ein Free-Speech-Fundamentalist. Aber ich glaube nicht, dass es ein guter Gebrauch unseres Kopfes oder unsere Moral ist, augerechnet Charlie Hebdo zu verherrlichen." Dokumentiert sind auch die ausufernden Briefe Deborah Eisenbergs mit gleicher Tendenz und Fragen Glenn Greenwalds an den PEN: "Würde der PEN Club jeden, der für seine Ansichten umgebracht wird, einen "Helden" nennen?"

In einem Kommentar zum Streit kritisiert Greenwald, dass die Charlie-Hebdo-Affäre nur genutzt werde, um Muslime zu unterdrücken, ihre Meinungsfreiheit einzuschränken und Überwachungsmaßnahmen zu installieren. "Wie ich schon nach der Demonstration in Paris schrieb, ist es einfach unvorstellbar, dass Charlie Hebdo-Zeichner als Helden dargestellt würden, hätten sie bevorzugtere Bevölkerungsgruppen angegriffen (in der Tat wurde ein Charlie-Zeichner gefeuert, der sich 2009 über das Judentum lustig gemacht hatte: Wo waren da all die neuen Kreuzzügler der Meinungsfreiheit?)"

Weiteres: Alex Massie fragt im Spectator: "Why are so many novelists so stupid?" Der amerikanische PEN Club bekennt in einem Statement seinen Respekt für die Boykotteure, hält aber an seiner Absicht fest.

Die deutschen Medien interessieren sich so gut wie gar nicht für den Streit. Die SZ bringt eine dürre Meldung. In der FAZ begrüßt Patrick Bahners den Gala-Boykott: "Der Protest der sechs Autoren bringt die Widersprüche im Lob der schrankenlosen Meinungsfreiheit zur Sprache ."

Salman Rushdie hat sich auch auf Twitter geäußert:
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Medien

Nachdem Lobbyist Springer in Brüssel sein Großmagazin politico.eu gegründet hat, kommt jetzt Google und schiebt den wichtigsten europäischen Zeitungen, die kräftig gegen die in Brüssel verhandelte Marktposition Googles stänkern könnten, Geld für einen "Innovationsfonds" zu. "Der Internetriese will digitalen Journalismus in den kommenden drei Jahren mit 150 Millionen Euro fördern", berichten die Agenturen (hier bei Spiegel online). Gefördert werden nur die Platzhirsche: Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit aus Deutschland, Financial Times und The Guardian aus Großbritannien, NRC Media aus den Niederlanden, Les Echos aus Frankreich, El Pais aus Spanien, La Stampa aus Italien. Die Initiative soll "auch für andere Medien offen sein. Für den Innovationsfonds könne sich jeder bewerben, hieß es, auch reine Online-Medien oder Startups." Aber nur die Zeitungen sind "Gründungsmitglieder".

Ken Doctors Kommentar bei politico.eu stellt dann auch gleich die fälligen Assoziationen her: "Das Timing der Mitteilung ist nicht zufällig. Just vor zwei Wochen hat die Europäische Union durch ihre Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager Google formell angeklagt, seine Marktmacht in Europa unfair und illegal zu gebrauchen." Auch andere haben diese Assoziation. Kommentar bei Engadget: "Google makes nice with European news publishers."

(Via kress.de) Der Journalistikprofessor Jeff Jarvis scheint einer der Architekten des Pakts zu sein. Jetzt schreibt er auf seinem Blog: "Google braucht Freunde in Europa. Jetzt hat es vielleicht welche gefunden." Und bringt dann die "Disclosures": "Ich berate den Guardian. Ich war beim Meeting der Verleger und Google im letzten Januar dabei. Ich habe Google meinen (kostenlosen) Rat über diesen Deal und seine Beziehungen zu den Verlegern gegeben."

Weiteres: Matthew Ingram schreibt: Die Verleger irren sich in ihrem Feind. sie sollten sich eher mit Facebook auseinandersetzen. Immerhin: In der FAZ schreibt heute Wolfie Christl über Facebook: "Das Netzwerk erkennt jeden Einzelnen und verkauft uns an die Werbung." Vielleicht bleibt da ja auch ein bisschen Geld übrig.
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Geschichte

In der taz erklärt sich Isolde Charim Ankaras Weigerung, den Völkermord an den Armeniern als solchen anzuerkennen, mit einem Geschichtskonzept, das keine Gegenhistorie kennt, keine Geschichte der Opfer, sondern nur das, was Foucault die Jupiter-Geschichte genannnt habe: "Sie ist jene Art von Geschichtserzählung, die die Geschichte der Sieger erzählt. Jene, die "bindet und blendet" - der Glanz des Ruhmes soll die Menschen blenden und dadurch an die Macht binden. Sie soll die Gesellschaft um den Sieg herum einen. Die Geschichte als Legende, als Glorie der Vorbilder ist also ein Machtfaktor. Jupiterhistorie, die unbefleckte Heldenerzählung, ist ein Ritual zur "Stärkung der Souveränität"."

Nach Ian Kershaw gestern in der Berliner Zeitung interviewt Martin Hesse heute in der FR den Historiker Norbert Frei zum Kriegsende. Frei erklärt die schnelle Demokratisierung zumindest der West-Deutschen nach 1945 so: "Zum einen waren der totale moralische Bankrott und die Totalität der politischen Niederlage, anders als 1918, für jedermann klar erkennbar. Das sind zwei wichtige Faktoren. Nichts von dem, was politisch bis zum Frühjahr 1945 galt, war zukunftsfähig. Das erkannten doch die meisten Deutschen, auch wenn sich manche damit schwertaten. Daher auch die rasche Bereitschaft, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Damit waren jede Menge Lügen und Beschönigungen verbunden, aber für den Erfolg einer neuen Ordnung ist diese Distanzierung bedeutsam. Zum anderen kam hinzu, dass die Amerikaner in Westdeutschland präsent blieben - militärisch und politisch, materiell und ideell."

Für die NZZ besucht Georg Renöckl die Ausstellung "Mythos Galizien" im Wien-Museum, in der er viel über Österreichs einstiges "Kronland", das tatsächlich sein Armenhaus war: "Galiziens Ende war lang und schrecklich."
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Kulturpolitik

Gerhard Matzig ist in der SZ ganz begeistert von der neuen Idee, Münchens teils ersehnten, teils umstrittenen neuen Konzertsaal im Olympiapark zu bauen. Für ihn geradezu ein Geniestreich: "Ein Konzertsaal von Weltrang und in Form herausragender Architektur, gemeinsam mit BMW-Welt und Fernsehturm ein ensemblehaftes Stadttor bildend, würde sich an diesem Standort als Herzschrittmacher erweisen. Hier könnte München, der Entwicklung mal wieder ein paar Jahrzehnte hinterherhinkend, von Städten wie Bochum oder Dortmund lernen. Abgesehen von Paris und London."

Im März wurde in Nowosibirsk eine "Tannhäuser"-Inszenierung abgesetzt, weil sich orthodoxe Christen in ihren Gefühlen verletzt sahen, der Thriller "Child 44" wurde verboten, weil er historische Tatsachen verzerre. In der NZZ beobachtet Oliver Bilger die neuesten Versuche des Kremls, sich Kunst und Geschichtsbild nach seinem Belieben zurechtzufeilen: "Russische Künstler fürchten, die Staatsführung wolle nach Politik und Medien nun den Kulturbetrieb gleichschalten. Sie sehen Russland auf dem Weg zurück in Zeiten des sozialistischen Realismus."

Die Wissenschaftler Niels Gutschow, Axel Michaels und Marcus Nüsser fürchten nach dem Erdbeben in Nepal mit über viertausend Toten in der FAZ auch um die Kulturdenkmäler: "Dazu zählen die Plätze vor den Palästen (Darbar) der ehemaligen Könige von Katmandu, Patan und Bhaktapur, die Stupas von Svayambunath und Bauddha sowie die Hindutempel Pashupatinath und Cangu Narayan. Alle diese Stätten sind erheblich zerstört oder beschädigt worden."
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Religion

"Billig" findet Thomas Avenarius in der SZ Ayaan Hirsi Alis Kritik am Islam wie auch ihr neues Buch "Reformiert Euch!" Und ernst nehmen kann er ihre Unterscheidung von Mekka-Muslimen und Medina-Muslimen sowieso nicht: "Das folgt, Ayaan Hirsi Ali lebt schließlich in den USA und arbeitet für den dortigen neokonservativen Markt, dem Muster von denen mit dem weißen und denen mit dem schwarzen Hut. Die einen sind mit uns, die anderen gegen uns. Feuer frei."
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Stichwörter: Hirsi Ali, Ayaan