30.04.2015. Die Charlie Hebdo-Debatte spitzt sich weiter zu. Über 30 Schriftsteller schließen sich dem Protest der Gala-Boykotteure gegen eine Auszeichnung der Zeitung durch das amerikanische PEN-Zentrum an, darunter sind Joyce Carol Oates, Eliot Weinberger und Charles Simic. Wir verlinken auf ihren Brief. Auch der Präsident des deutschen PEN Zentrums, Josef Haslinger, wendet sich laut Tagesspiegel gegen eine Ehrung für die Zeitung. Außerdem: In der NZZ schreibt der Autor Boubacar Boris Diop über Ausländerfeindlichkeit in Südafrika. Politco.eu und Netzpolitik werfen kritische Blicke auf Googles Freundschaftsgeschenke an Zeitungen.
Ideen, 30.04.2015

Findet die New Yorker
Gala des PEN Clubs vor halbleerem Saal statt? Die von deutschen Medien bisher weitgehend ignorierte Debatte um die Auszeichnung von
Charlie Hebdo spitzt sich zu.
Über 30 weitere Schriftsteller schließen sich dem Gala-Boykott Teju Coles, Michael Ondaatjes, Taiye Selasis und anderer an. Darunter sind zum Beispiel
Junot Díaz und
Joyce Carol Oates. Sie veröffentlichen einen Brief, der im
New York Magazine unter dem
Bericht Boris Kachkas dokumentiert ist: "There is a
critical difference between staunchly supporting expression that violates the acceptable, and enthusiastically
rewarding such expression." Zu den neuen Unterzeichnern gehören auch
Raj Patel,
Wallace Shawn,
Charles Simic,
Eliot Weinberger.
Auch der Präsident des deutschen PEN-Zentrums,
Josef Haslinger kritisiert die Auszeichnung,
berichtet der
Tagesspiegel mit
AFP: "Die Zeitschrift überziehe religiöse Menschen
mit Spott, dadurch fühlten sich viele beleidigt,
sagte Haslinger am Mittwoch dem
Deutschlandradio Kultur. "Das muss man nicht unbedingt mit einem Preis auszeichnen." Haslinger warf
Charlie Hebdo vor, die Zeitschrift trage in Paris zur
Verschärfung des Klimas zwischen den gesellschaftlichen Gruppen bei - und nicht zur Versöhnung."
Hannes Stein
wirbt in der
Welt mit Blick auf die
Charlie-Debatte um Verständnis für die
amerikanische political correctness in religiösen Dingen, die zu einem verzerrten Blick auf Europa führe: "Religion war selten ein Herrschaftsinstrument, häufiger war sie eine Waffe in der Hand von Leuten, die für
ihre Rechte kämpften. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung etwa entlehnte ihre Rhetorik direkt der hebräischen Bibel. Es gibt in Amerika also keine lange Tradition des aufklärerischen Antiklerikalismus. Dafür aber gibt es eine lange und schreckliche Tradition des
Rassismus. Wenn man aus diesem Blickwinkel nach Europa schaut, nehmen französische Muslime sehr schnell die Rolle von
schwarzen Amerikanern ein: Sie erscheinen dann als entrechtete, gedemütigte Minderheit, die tapfer um ihr Überleben kämpft."
Kulturmarkt, 30.04.2015
Isabelle Graw, Herausgeberin der Zeitschrift Texte zur Kunst, begründet in der FAZ, warum sie kein Problem mit dem boomenden Kunstmarkt hat: "Das ist das Privileg der bildenden Kunst: dass sie in Marktverhältnissen gründet, es in ihr aber auch um andere Dinge gehen kann. Dieses Andere ist jedoch nur zu der Bedingung zu haben, dass ihre grundlegende Verwobenheit in ökonomische Umstände Anerkennung findet."
Politik, 30.04.2015
Bernard-Hernri Lévy bedauert sein Engagement in
Libyen, das zum Sturz Muammar al-Gaddafis beitrug, nicht, wie er im
Interview mit Frédéric Gerschel im
Parisien betont. Auch das
Flüchtlingsproblem lässt sich für ihn nicht einfach auf das Chaos in Libyen schieben: "Die Schleuser sind nur das
letzte Glied der Kette. Was liegt davor? Die armen Leute, die vor dem Elend in der Sahel-Zone fliehen. Die syrischen Flüchtlinge, die den Bomben Baschar Al-Assads entgehen wollen. Die Eriträer, die die Diktatur nicht mehr aushalten. Kurz, es ist zu einfach wegzugucken und diese Migration zu einem "libyschen Problem" zu erklären, die tragisch ist, ohne Lösung, und heute eines der
größten Probleme, mit denen Europa und die Welt konfrontiert sind."
Mitte April wurden bei
ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Durban und Johannesburg sieben Immigranten getötet. Der senegalesische Schriftsteller
Boubacar Boris Diop führt diese und ähnliche Untaten von 1998 und 2008 in der
NZZ auf die Idee eines
südafrikanischen Partikularismus zurück, nach dem das Land nicht zum afrikanischen Kontinent gehöre: "Es kann schlimme Folgen haben, wenn sich dieser
nationalistische Autismus mit der Not und Frustration des Alltags amalgamiert. Die Arbeitslosenrate in Südafrika liegt offiziell bei 25 bis 30 Prozent, Experten schätzen sie wesentlich höher; von den jungen Südafrikanern finden mehr als die Hälfte keine Arbeit. Die Zahl der - mehrheitlich schwarzafrikanischen - Immigranten wiederum wird auf bis zu fünf Millionen geschätzt; wenn diese oft illegal eingewanderten Neuankömmlinge, die
nichts zu verlieren und vom Staat nichts zu erwarten haben, es dank zähem Fleiß und besserer Bildung zu etwas bringen, entsteht bei den einheimischen Verlierern schnell einmal das Gefühl, die Fremden nähmen ihnen buchstäblich das Brot vom Munde weg."
Überwachung, 30.04.2015
"Es liegen weiterhin keine Erkenntnisse zu
angeblicher Wirtschaftsspionage durch die NSA oder andere US-Dienste in anderen Staaten vor", teilte das Innenressort von
Thomas de Maizière am 14. April auf eine Anfrage der Fraktion der Linken mit - eine Falschaussage, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Spätestens seit 2010 wurde das Kanzleramt vom BND über Versuche der NSA informiert, die Rüstungskonzerne EADS und Eurocopter auszuspähen (mehr
hier). Damit ist die BND-Affäre zu einer
Merkel-Affäre geworden,
schreibt Sascha Lobo in seiner
SpOn-Kolumne und fordert Konsequenzen: "Die Merkel-Affäre ist auch ein Test, ob die Demokratie in diesem Land noch funktioniert. Oder ob völlig egal ist, was passiert, was bekannt wird, was wer wie im Namen der Regierung getan hat - und es nur
symbolische Konsequenzen gibt. Die eigentliche Frage lautet: Ist überhaupt eine Enthüllung denkbar, die substanzielle Folgen haben könnte? Also, wenn nicht wie bei Wulff ein Bobbycar als total einleuchtender Grund vorliegt? Oder regiert Angela Merkel die
demokratischen Werte in Grund und Boden und wird dabei von ihren begeisterten Fans in allen Funktionsebenen und Gesellschaftsschichten unterstützt?"
"Die Spionage der Vereinigten Staaten in unserer Wirtschaft ist gerechtfertigt, in unserem Interesse und
keine Industriespionage",
versichert hingegen in der
FAZ Sandro Gaycken, Senior Researcher für Cybersecurity und Cyberstrategy an der European School of Management and Technology in Berlin: "Die Spionage der Vereinigten Staaten dient der
Bestätigung unserer Aussagen und schafft einen Anreiz zur Einhaltung von Versprechen. Ein Korrektiv gegen ein zu hartes Auseinanderklaffen
deutscher Doppelmoral", beispielsweise im Zusammenhang mit dem Export von Rüstungsgütern.
Europa, 30.04.2015
Die
Scottish National Party hat mit dem Referendum vor ein paar Monaten einen Krieg verloren, nun sieht es aus, als würde sie den Frieden gewinnen,
schreibt Alex Massie bei
politico.eu. Die SNP sei auf dem besten Wege, in den anstehenden Wahlen praktisch alle Wahlkreise von der
Labour Party zu gewinnen und damit drittstärkste Partei im britischen Parlament zu werden: "Der Aufstrieg der SNP ist in vieler Hinsicht die größte inländische Bedrohung des britischen Staates, seit
Sinn Fein einen überwältigenden Sieg in Irland im Jahr 1918 feierte. Dieser Sieg bereitete den Weg für die irische Unabhängigkeit, und es ist möglich, dass die Siege der SNP zu einer weiteren, diesmal friedlichen konstitutionellen Revolution führt."
Weiteres: In der
FAZ wirbt Patricia Oster-Stierle für
deutsch-französische Austausch- und Bildungsprogramme.
Geschichte, 30.04.2015
"Ist das alles wirklich so neu und unerhört?",
fragt sich Sonja Zekri in der
SZ nach dem Besuch des gestern nach jahrzehntelangen Debatten eröffneten
NS-Dokumentationszentrums in
München, das ihr bisweilen "pädagogisch strangulierend eng geführt" erscheint: "Zum Schluss sieht man ein Foto, auf dem Neonazis an der Feldherrnhalle 1987 eine Totenwache für Rudolf Heß halten. Und gegenüber, genauso groß, das Bild einer Lichterkette für Frieden und Toleranz. So sieht
moralisches Vollkasko aus." Auch Sven Felix Kellerhoff (
Welt) und Hannes Hintermeier (
FAZ) haben das Dokumentationszentrum besucht.
Weiteres: Rudolf Neumaier
berichtet in der SZ von der Ausstellung "
Napoleon und Bayern" im
Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt. In der
NZZ schreibt Joachim Güntner eine kleine
Geschichte des Streiks.
Gesellschaft, 30.04.2015
In der
taz wehrt sich der
Blogger und Poetry Slammer Aidin Halimi Asl, Jahrgang 1981, gegen die Kritik an seiner Generation und ihren
halbherzigen Protestbewegungen: "Wir nehmen unsere Kuscheltiere mit auf die Demo anstelle einer Steinschleuder, schlürfen unsere
Cocktails, anstatt Molotowcocktails zu bauen. Warmduscher, Weicheier, Windelträger? Nein! Schüler, die ihre Geschichtshausaufgaben nachholen. Wir haben gelernt, dass Revolutionen ihre Kinder fressen. Unsere Revolutionen sind
samtig, sanft und seidig. Wir wissen, dass Gewalt Spiralen erzeugt. Wir bleiben kompromisslos friedlich."
Medien, 30.04.2015
Dieses Zitat in
Springers neuem Europamedium
politico.eu muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: "Wir waren genauso schockiert darüber wie Sie es gewesen sein mögen", sagte
Thomas Höppner, Rechtsberater des deutschen Zeitungsverlegerverbands BDZV." Es geht natürlich um
Googles Geldregen für ausgewählte Zeitungen und weitere Medien, die sich bewerben dürfen, über den David Meyer
berichtet. Und weiter im Höppner-Zitat: "Sieht aus wie ein geschickter politischer Schritt, um den Eindruck zu erwecken, dass Google
gut mit den Zeitungen auskommt, obwohl das Gegenteil der Fall ist." Und Höppner bekennt, dass man "
ein wenig überrascht ist", etablierte Zeitungen wie die
FAZ und die
Financial Times im Google-Fahrwasser zu sehen.
Schon gestern
schrieb Lorenz Matzat in
Netzpolitik über den 150 Millionen Euro schweren Deal zwischen
Google und Zeitungen wie der
FAZ und der
Zeit (und die
SZ will ja auch einsteigen, mehr
hier): "Die Journalismusverbände, die
FAZ, die
Zeit, der
Guardian und die anderen werden damit leben müssen, dass sie
zumindest im Verdacht stehen, sich vor den Karren von Google spannen zu lassen: Ihr Umgang mit und die
Berichterstattung über Google wird ab jetzt mit anderen Augen betrachtet werden. Niemand ist
so naiv zu glauben, Google würde hier selbstlos handeln - genausowenig wie die Verlage und Verbände."