9punkt - Die Debattenrundschau

So viele praktische Tipps

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2015. Die EU muss sich auf unangenehme Verhandlungen mit dem strahlenden Wahlsieger David Cameron gefasst machen, ahnen taz, Tagesspiegel und Guardian. Auch für Russen ist das Kriegsende eine zwiespältige Erinnerung, schreibt Michail Schischkin in der NZZ. In der Ukraine wird künftig nicht mehr an den Gräbern der Gefallenen getanzt, berichtet Maria Matios in der taz. Und Frank Schirrmacher versetzt die Welt noch einmal in epochale Schwingungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.05.2015 finden Sie hier

Europa

Nach dem großen Wahlsieg wird David Cameron seine zweischneidige Strategie gegenüber der EU erst recht fortsetzen, glaubt Albrecht Meier im Tagesspiegel: "Einerseits beteuert er, auf einen Verbleib Großbritanniens in der Gemeinschaft hinzuarbeiten, andererseits stellt er Forderungen an die EU, die kaum zu erfüllen sein dürften. Das gilt beispielsweise für den Wunsch, Arbeitsmigranten aus der EU auf der Insel für mehrere Jahre pauschal vom Bezug von Sozialleistungen auszuschließen. Eine solche Forderung wäre mit dem Vertragsrecht der EU nicht vereinbar, und auf eine derartige Vertragsänderung dürften sich Camerons EU-Partner nicht einlassen."

Die EU sollte sich nicht auf Camerons Erpressungsversuche einlassen, denn es gibt bereits viel zu viele britische Sonderrechte, findet Eric Bonse in der taz: "London ist nicht im Euro, es ist kein Teil des Schengen-Raums. Nur für das Kapital, nicht für die Menschen soll die britische EU grenzenlos sein. Cameron hat das EU-Budget geschrumpft, und er hat verhindert, dass die Euroländer eine eigene, schlagkräftige Wirtschaftsregierung aufbauen konnten. Zugleich hat er mit seiner Kampagne gegen bulgarische oder rumänische Einwanderer den Fremdenhass in ganz Europa geschürt; auch Berlin ließ sich davon anstecken."

Ein EU-Ausstieg Großbritanniens ist in niemandes Interesse, argumentiert Natalie Nougayrède im Guardian und appeliert an die Politik, eine Lösung zu finden: "For if Europe loses Britain, it runs the risk of self-destruction. And if Britain drops out of the EU, it will have to navigate uncharted waters, and risk becoming a small, insignificant player in a globalised world... The onus must now surely be on Britain"s politicians to make sure that the domestic debate unfolds in an informed, lucid, constructive way - not one that plays only on unfounded fears and cheap jingoistic slogans."
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Gesellschaft

Mit Günter Grass ist der wohl letzte intellektuelle, öffentlich mahnende Guru gegangen, prophezeit Tilman Krause in der Welt, . Grund dafür ist die "ungeheure Nivellierungsmaschine" Internet: "Der Daueraustausch führt eben auch zu einer Konformität des Ausdrucks sowie letztlich des Denkens, mit der man zumindest die differenzierter angelegten Naturen nicht zufriedenstellen wird. Nur die Dauerartikulation kann noch Aufmerksamkeit provozieren. Doch wer immer online ist, der hebt sich eben aus der Masse auch nicht mehr hervor. Es ist ein Teufelskreis: Der besonders gut Informierte, der prophetische Bescheidwisser - sie haben in einem System, in dem alle Bescheid zu wissen vorgeben und dies nach Kräften zum Ausdruck bringen, keinen Platz mehr. Nur die kleinen Gegenöffentlichkeiten besitzen noch die Chance, den großen Durchblick er zu generieren. Das Kleine, Marginale gebiert jedoch nicht den Guru. Sondern nur den Sektierer."

Kulinarisch bestens versorgt ist Ursula Scheer in der FAZ über die Expo in Mailand spaziert, die sich mit der drängenden Frage nach der Ernährung einer ständig wachsenden Menschheit beschäftigt. Der deutsche Pavillon etwa: "Unsere vier Landsleute, die als Bio-Botschafter ausgewählt wurden, darunter ein Koch und ein Bauer, der alte Apfelsorten anbaut, sollen wohl den putzigen Eindruck vermitteln, hierzulande kochten Menschen unter Autobahnbrücken und äßen im Wald. Aber Besucher aus Kuweit sind begeistert. "So viele praktische Tipps", loben sie den verantwortungsbewussten Einkauf von Lebensmitteln etwa."
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Politik

Gerhard Gnauck schaut in der Welt nach Polen, wo am Sonntag Bronislaw Komorowski voraussichtlich erneut zum Präsidenten gewählt wird. Die polnische Wirtschaft boomt, aber: "Polen hat nach wie vor eine stark polarisierte Gesellschaft - wer nach Parallelen sucht, könnte auf die Bundesrepublik kurz nach 1968 verweisen. Die Polen sind in Lager gespalten und leicht in Erregung zu versetzen."
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Stichwörter: Polen, Komorowski, Bronislaw

Geschichte

Im Gedenken an das Kriegsende wird in der Ukraine neuerdings nicht nur das Nazi-, sondern auch das kommunistische Regime verurteilt, berichtet die ukrainische Autorin Maria Matios in der taz: "Laut dem neuen Gesetz wird kein Feiertag verlegt und schon gar nicht der "Tag des Sieges" verboten, wie es die hysterische russische Propaganda beteuert. Der ukrainische Staat weist lediglich freundlich darauf hin, dass mit hirnlosen Tanzorgien am Grabe der Gefallenen Schluss sein sollte. Der Gefallenen soll man gedenken, die Unversöhnten versöhnen. Denn seien wir ehrlich, in ein paar Jahren gibt es gar keine mehr, die es zu versöhnen gilt."

"Mein Vater kämpfte gegen das Böse des Faschismus, aber ein anderes Böses nutzte ihn aus", beschreibt der Schriftsteller Michail Schischkin in der NZZ anhand der eigenen Familiengeschichte den Zwiespalt aus Kriegsgewinn und erneuter Unterdrückung aus russischer Perspektive. Und er zieht Parallelen zur Gegenwart: "Im Gewaltkonflikt mit der Ukraine ruft man die Russen wieder in den Kampf gegen den "Faschismus". Einmal mehr greift ein Diktator zum Patriotismus, um seine Macht zu sichern. Hysterisch prasselt es von den Bildschirmen herab. Die Rede ist vom "großen Russland", von der "Rückkehr der russischen Erde", dem "Schutz der russischen Sprache" oder dem "Sammeln der russischen Welt". Und immer wieder lautet der Appell: "Lasst uns die Welt vor dem Faschismus retten.""
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Internet

Selbst mit dem postumen Debattenband "Technologischer Totalitarismus" erzeugt Frank Schirrmacher noch einmal "epochale Schwingungen", und Mara Delius erschaudert unter ihnen in der Welt auch entsprechend freudig. Und sie lernt, was das Silicon Valley vom Feuilleton in der Frage der digitalen Revolution unterscheidet: "Verschieden sind nicht die Voraussetzungen, sondern die Einstellung zu den Mitteln des Geistes - können Begriffe Entwicklungen steuern? Im deutschen Feuilleton ja, in der Digitalwirtschaft des Silicon Valley nein."

Die Filterblase sind wir meist selbst, weiß Christian Meier in der Welt, nachdem er eine - von drei Facebookmitarbeitern durchgeführte Studie - gelesen hat: "In erster Linie seien es die individuellen Nutzer selbst, die es vorzögen, nicht mit kontroversen Ansichten konfrontiert zu werden. Anders gesagt: Sie bekommen demnach zwar Inhalte ausgespielt, die ihren eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen, doch sie klicken diese nicht an."
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Medien

Der Spiegel-Journalist Christoph Reuter und der Fotograf Robin Hinsch wurden in der Türkei beim illegalen Grenzübertritt aus Syrien festgenommen und nach Deutschland ausgewiesen, meldet Frank Nordhausen in der FR: "Die Türkei lässt nur selten Journalisten offiziell nach Syrien ausreisen. Daher verlassen sich viele Kriegsreporter auf die Hilfe von Schmugglern. Sie müssen dann allerdings wieder illegal in die Türkei zurückkehren, da ihnen der türkische Ausreisestempel im Pass fehlt und sie der Grenzpolizei nicht erklären können, wie sie zuvor die Türkei verlassen haben. Der illegale Grenzübertritt ist nicht ungefährlich, da das türkische Militär auf Unbefugte im Grenzstreifen schießt." Der Journalisten droht eine Einreisesperre für die Türkei.
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Stichwörter: Der Spiegel, Syrien, Türkei, Reue