9punkt - Die Debattenrundschau

Ein großes Zufälligkeitsarrangement

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2015. Warum hassen Islamisten die Frauen?, fragt Kamel Daoud in der huffpo.fr. Und verdient Blasphemie ein Lob?, fragt slate.fr. Die taz verfolgt Milo Raus Kongo-Tribunal. Die SZ staunt über immer neue Willkürakte des Kreml auch in Russland selbst. In der taz findet Micha Brumlik bei Martin Buber Argumente für eine israelisch-palästinensische Einstaatenlösung. Spiegel Online und das Altpapier haben herausgefunden, wer die FIFA-Korruption wirklich finanziert: Wir.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.06.2015 finden Sie hier

Religion

Warum hassen die Islamisten die Frauen, fragt Kamel Daoud in der huffpo.fr: "Der Islamist nimmt es der Frau übel, dass sie notwendig ist, wo er sie doch zur Nebensache erklärt. Der Islamist fühlt sich unwohl in seinem Körper, und die Frau erinnert ihn daran. Er hat ein dunkles Verhältnis zum Lebendigen, und die Frau, die das Leben gibt, erinnert ihn daran, dass er den Tod bringt. Der Islamist möchte die Frau verschleiern, um sie zu vergessen, zu leugnen, zu entkörperlichen, über sie hinwegzusteigen. Und so geht er in die Falle, denn er schwankt und fällt zurück und nimmt es der Frau übel, dass er nicht über das Leben hinwegschreiten kann, um den Himmel zu packen. Sie ist also seine Feindin, und um sie töten zu können, erklärt er sie zur Feindin Gottes."

Henri Tincq kritisiert in slate.fr zwar Caroline Fourests Buch "Eloge du blasphème", konstatiert aber mit dem Historiker Alain Cabantous, der ebenfalls ein Buch zum Thema ("Histoire du blasphème en Occident") geschrieben hat: "Der Historiker beobachtet heute eine Wiederauferstehung dieses Worts und der Debatte über das "Verbrechen" der Blasphemie. Der Aufstieg der Extremismen mit ihren heiligen und absoluten Werten und identitären und kommunitaristischen Forderungen bedroht das Recht auf Religionskritik. Jede despektierliche Äußerung, jede "gottlose" Schrift oder Zeichnung ist der Drohung von Repressalien ausgesetzt."

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Politik

Simone Schlindwein (taz) hat in Bukavu, der Welthauptstadt der Vergewaltigung, die Eröffnung von Milos Raus Kongo-Tribunal miterlebt. Und es wurde durchaus brisant. Der erste Zeuge trat vermummt auf: "Er berichtet von einem Massaker im Flüchtlingslager Mutarule, unweit von Bukavu an der Grenze zu Burundi, bei welchem vor genau einem Jahr 35 Menschen getötet und 27 schwer verletzt wurden. Er legt der Jury Fotos der Leichen als Beweise vor. Bewaffnete Männer seien in das Lager eingedrungen. Der Zeuge habe Kongos Armee und die UN-Blauhelme angerufen, die in der Nähe stationiert waren, berichtet er. Doch niemand schritt ein. "Hätten Soldaten und Blauhelme das Massaker verhindern können?", fragt Bisimwa den Zeugen. "Ja", sagt dieser. "Wer trägt also die Verantwortung?", fragt der Staatsanwalt nach. Die Antwort kommt ohne zu zögern: "Die Regierung." ... Dass in Raus Kongo Tribunal nicht in erster Linie die internationalen Minengesellschaften, sondern die Regierung auf der Anklagebank sitzt, war abzusehen. Die Stimmung im Saal ist zum Zerreißen gespannt."

Tim Neshititov kann sich in der SZ kaum erklären, warum ausgerechnet Russlands bravster Mäzen Dmitrij Simin, der mit seiner Stiftung Dinastija Stipendien an Naturwissenschaftler vergibt, vom Kreml als ausländischer Agent gebrandmarkt wurde: "Der Astronom Wladimir Surdin, Gewinner eines Dinastija-Preises und einer der beliebtesten Moskauer Dozenten, nannte im oppositionellen Nischensender Doschd ein sehr banales Motiv: "Simin hat sein Geld nie mit Beamten geteilt. Er hat nicht einmal mit seiner Familie geteilt.""
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Ideen

Jan Philip Reemtsma verlässt das von ihm gegründete Hamburger Institut für Sozialforschung. Zusammen mit dem neuen Institutsleiter Wolfgang Knöbl plaudert er im SZ-Interview mit Jens Bisky über die berühmte Wehrmachtsaustellung, Sozialwissenschaften heute oder eine mögliche Soziologie des griechischen Steuerstaats. Aber einen festen Plan gibt es nicht unbedingt: "Das ist eine Frage, die in Interviews gern gestellt wird, die aber im Ernst nicht beantwortbar ist. Man hat keine Liste. Man hat gewisse grundlegende Interessen und dann arbeitet man mit Leuten. Das ist ein großes Zufälligkeitsarrangement. Sie können Wissenschaft nicht als Planwirtschaft betreiben."

Micha Brumlik erinnert in der taz an den vor fünfzig Jahren gestorbenen Religionsphilosophen Martin Buber, der die Juden nicht nur mit den Deutschen, sondern auch mit den Palästinensern aussöhnen wollte, und findet bei ihm Argumente für eine Einstaatenlösung: "Die von israelischen Regierungen seit bald fünfzig Jahren betriebene, völkerrechtswidrige Besiedlung des Westjordanlandes verweist die Zweistaatenlösung in den Bereich politischer Mythologie. Allen vermeintlichen Realisten, die von einer grundlegenden Unvereinbarkeit jüdischer und arabischer Interessen ausgingen, hielt Buber in den 1940er Jahren entgegen, dass erst der Glaube an die Macht des Verhängnisses das Verhängnis eintreten lasse."
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Kulturpolitik

Bundeskulturministerin Monika Grütters verteidigt im Interview mit Swantje Karich und Cornelius Tittel von der Welt ihr geplantes Kulturgutschutzgesetz, das vom Kunsthandel angegriffen wird (mehr hier): "Gemach - worum geht es hier eigentlich? Für bestimmte einzelne Kunstwerke in Deutschland wird beim Export in andere EU-Mitgliedstaaten zukünftig eine Ausfuhrgenehmigung erforderlich werden. Nahezu alle EU-Mitgliedstaaten haben bereits eine solche Regelung. Nur wir bisher nicht."
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Internet

Anna Biselli hat für Netzpolitik.org recherchiert, ob, wann und wie Flüchtlinge in Deutschland eigentlich Zugang zum Internet haben. "Was uns vor allem aufgefallen ist: Wie unterschiedlich die Lage ist. Wie sehr es davon abhängt, dass ein Geflüchteter "Glück hat" und in ein Wohnheim kommt, in dem es vielleicht eine angemessene Infrastruktur gibt. Doch dabei darf es eigentlich nicht sein, dass das Recht auf den Zugang zu Bildung und Informationen so beliebig gehandhabt wird."
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Medien

Endlich greift mal einer dieses Thema auf: Das Hauptgeld der FIFA-Korruption zahlen die Fernsehzuschauer (mehr im Perlentaucher), und zwar ganz besonders die deutschen Gebührenpflichtigen, schreiben Stefan Kaiser und Anna van Hove bei Spiegel Online: "Spätestens seit Bekanntwerden des jüngsten Korruptionsskandals stellt sich die Frage, inwieweit das System Blatter vom Geld deutscher Fernsehzuschauer am Leben erhalten wird. Mit 43 Prozent machen die Erträge aus den Fernsehrechten beinahe die Hälfte der Gesamteinnahmen des Weltverbandes aus. Zusammen mit den Sponsorengeldern, die von Konzernen wie Adidas, Visa oder Coca-Cola fließen, waren es zuletzt sogar fast drei Viertel." Die deutschen Sender hätten für die beiden nächsten WM angeblich bereits über 400 Millionen Euro für die Rechte zugesagt, dürfen es laut Vertrag aber nicht zugeben.

Frank Lübberding erinnert im Altpapier daran, dass "ARD und ZDF öffentlich-rechtliche Körperschaften (sind), die keineswegs wie konventionelle Medienunternehmen agieren dürfen. Wofür bezahlen wir als Gebührenzahler sonst diesen Apparat? Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten haben in Europa Marktmacht, ansonsten könnten sie nicht ihre private Konkurrenz in dem Rechtepoker über die Übertragungsrechte der FIFA ausstechen. Es ist von ihnen schlicht nur eines zu erwarten: Diese im Sinne des öffentlichen Interesses an einen Fußball einzusetzen, der nicht zum Selbstbedienungsladen degeneriert."

Der Economist untersucht Jeff Bezos" Taktiken für die Washington Post: "In ihrer Runderneuerung folgt die Post einigen Amazon-Rezepten. So wie Bezos seine E-Commerce-Firma zunächst darauf fokussierte, Marktmacht zu gewinnen und die Gewinne für später aufschob, so lässt er die Zeitung zunächst mehr nationale und internationale Leserschaft gewinnen."
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