9punkt - Die Debattenrundschau

Wahnsinnig kooperative Menschen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2015. Die Aktionskünstler vom Zentrum für politische Schönheit wollen die exhumierten Leichen ertrunkener Flüchtlinge nach Deutschland bringen - aber wollen sie das wirklich?, fragen taz, Vice und SZ. Im Tagesspiegel fordert Laurie Penny eine Revolution der faulen Frauen.  Im Guardian verteidigt Cory Doctorow die Internet-Utopisten. Und nach der Formel über die "Demokratieabgabe" kursiert bei den Öffentlich-Rechtlichen laut Welt nun ein neuer Neusprech: "Die beste Möglichkeit, kritisch... über die FIFA zu berichten, ist der Rechteerwerb."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2015 finden Sie hier

Politik

Die Aktionskünstler vom Zentrum für politische Schönheit wollen die exhumierten Leichen ertrunkener Flüchtlinge nach Deutschland bringen, um sie hier "würdig zu begraben", berichten Ines Kappert und Martin Kaul in der taz. Devise: Die Toten kommen: "Am Sonntag soll vor dem Kanzleramt angeblich mit Arbeiten für ein "Ehrenmal für unbekannte Einwanderer" begonnen werden. Bei einer für Dienstag geplanten Beerdigung sollen eine Syrerin bestattet werden, die auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen und zuvor in einem anonymen Grab in Südeuropa vergraben worden sei."

In der SZ hat Peter Laudenbach noch nicht ausgemacht, ob es sich bei der drastischen Aktion um einen Skandal oder eine Fiktion handelt: "Sie haben, zumindest behaupten sie das, zusammen mit Angehörigen, Imamen und Pfarrern zehn "menschenunwürdige Grabstätten geöffnet und die Toten exhumiert". Diese Exhumierungen wären, wenn es stimmt, natürlich illegal, eine Missachtung der Totenruhe. Nur kann man genauso umgekehrt fragen: Wie ist es mit der Würde der Toten vereinbar, dass sie in Müllsäcken gestapelt werden?"

Bei Vice rückt der Aktivist Justus Lenz nicht so richtig mit den tatsächlichen Abläufen der Aktion heraus, erzählt aber von den Besuchen in den betroffenen Regionen: "Da werden regelmäßig Leichen angefahren, offiziell sind die meisten von denen anonym. Wenn man da hingeht und sagt, wir werden die Menschen würdig begraben, wir machen die sichtbar, dann trifft man dort auf wahnsinnig kooperative Menschen."

Jörg Häntzschel hat für die SZ in Hongkong die Protagonisten der Regenschirm-Bewegung besucht, die vor einem Jahr mehr Demokratie von Peking einforderte. Geblieben sind einige welke Zelte vor dem Legislative Council: "Die melancholische Idylle ist eher Memorial für die Proteste als deren Fortsetzung mit bescheideneren Mitteln. Firenze Lai und Benedict Leung waren lange bei keinem der Strategietreffen mehr. "Die Leute sind müde, alle warten", meint Kacey Wong. Und der Künstler Pak Sheung Chuen zuckt die Schultern: "Die Bewegung ist in kleine Gruppen zerfallen, die miteinander streiten.""

Im Guardian beschwört Timothy Garton Ash Europa, Griechenland zu retten, schon im eigenen Interesse: "China besitzt schon den Container-Hafen von Piräus und sieht in ihm das entscheidende Tor nach Europa in seiner ehrgeizigen Strategie "Ein Gürtel und eine Straße", manchmal auch "die neue Seidenstraße" genannt. Mit seinen immensen Währungsreserven würde Peking nur zu gern noch mehr solcher Leckerbissen aufpicken - und damit mehr Einfluss innerhalb der EU bekommen. Der Ort war einmal die Wiege Europas und der Demokratie - die griechische Flotte, die in der Schlacht von Salamis das antike Persien besiegte, segelte von Piräus los - jetzt wird er zur Schwanzspitze des chinesischen Drachens. Früher oder später wird ein Stachel in diesem Schwanz stecken."

David Gakunzi, der in huffpo.fr bloggt, sieht in der Person des Präsidenten Pierre Nkurunziza das "radikale Böse" in Burundi wiederkommen. Nkurunziza will Präsident bleiben, obwohl sein Mandat abgelaufen ist. Ob das Böse "mit offenem Gesicht oder in neuen Kleidern kommt, den bewaffneten Arm versteckt unter einer Flut von Wörtern, die den Frieden und die Ordnung beschwören, seine Natur ist unveränderlich, sein Programm voraussehbar: die Gesellschaft spalten und ethnisieren, die Grundlagen des Zusammenlebens zerreißen, agitieren und den Hass anheizen, Verwirrung stiften, Angst und Schrecken verbreiten, die Linie zwischen Tod und Leben verwischen - und eines Tages... wacht man auf, und es ist zu spät. Das radikale Böse ist banal geworden."

Weiteres: In der Berliner Zeitung attestiert Götz Aly den Griechen ein gebrochenes Verhältnis zur Realität in finanzpolitischen Dingen, aber auch in historischen. Klaus Hillenbrand zeigt sich in der taz ziemlich genervt von der endlosen Wiederholung dramatischer Höhepunkte und vermeintlich letzter Chancen im Streit mit Griechenland. (Der Zeichner Burkh greift allerdings schon zu den drastischen Mitteln.) In der FAZ erzählt Joseph Croitoru, wie sich die irakische Kulturszene und -politik mit dem Islamischen Staat auseinandersetzt.
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Kulturmarkt

Bei aller Bewunderung für die amerikanischen Serien. Hanns-Georg Rodek plädiert in der Welt dafür, nicht die Schönheiten des europäischen Rechte-Flickenteppichs leichtferig aufzugeben: "Netflix ist für den Film das, was Aldi oder Carrefour für Lebensmittel sind: das mächtige Bindeglied zwischen Hersteller und Konsument, das dem einen maximalen Absatz und dem anderen maximale Auswahl verspricht und am Ende beiden die Preise diktiert."

In der FAZ warnt Uwe Ebbinghaus außerdem vor den Überwachungsmöglichkeiten, die im sogenannten Smart-TV stecken und ruft nach Regulierung.
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Medien

Die Öffentlich-Rechtlichen haben es bisher geschafft, über die FIFA-Krise zu berichten, als seien sie nicht Partner der FIFA. Aber gerade die deutschen Sender zahlen Hunderte von Millionen Euro in das Blatter-Korruptions-System ein. Würden sie Transparenz zur Bedingung machen (mehr hier), könnte Blatter einpacken. In der Welt zitiert Christian Meier nun eine wunderbar Big-Brother-artige Formel, mit der die WDR-Rundfunkrätin Ruth Hieronymi den Rechteerwerb mit den Zwangsgebühren der deutschen Bürger rechtfertigt: "Die beste Möglichkeit, kritisch und während der WM prominent über die Fifa zu berichten, ist der Rechteerwerb." Meier hat überdies zehn Rundfunkräten einige Fragen zum FIFA-Skandal vorgelegt, nur vier antworteten.
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Internet

(Via Netzpolitik) Es wird langsam mal wieder Zeit, die Internetutopisten ein bisschen mehr zu würdigen, meint Cory Doctorow in seiner Guardian-Kolumne. Diese Utopisten glauben nämlich gar nicht, dass das Internet automatisch den Fortschritt bringt. Deshalb "schaffen sie eine normative Diskussion über die Gefahren eines "bösen" Netzes und die Macht eines guten, im Silicon Valley und vielen seiner Ableger. Das ist notwendig, aber nicht ausreichend, um die Übel des Netzes zu bekämpfen. Internetutopisten wissen das. Darum kämpfen sie für Gesetzesreformen. Darum veröffentlichen sie Daten. Darum schaffen sie Massenbewegungen gegen die Abschaffung der Netzneutralität und gegen Massenüberwachung."

Auch in Frankreich rufen Politiker nach Internetregulierung, sobald etwas Schlimmes geschieht, schreibt Grégor Brandy bei Slate.fr und zitiert eine Aktivistin: "Das Internet hat den Brüdern Kouachi nicht auf die Schultern geklopft, damit sie ein Attentat organisieren, sie haben es als Kommunikationsmittel benutzt. Ein Journalist von Le Monde hat diesen Punkt gemacht: "Die Politiker beschimpfen das Internet, aber niemand hat Gutenberg beschimpft, als "Mein Kampf" erschien."

Außerdem: Evgeny Morozov geißelt in der FAZ die Perfidien des Plattformkapitalismus.
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Gesellschaft

Im Tagesspiegel-Interview mit Gisa Funck ruft die britische Kolumnistin Laurie Penny Frauen zu mehr Faulheit auf, anstatt eine perfekte "Work-Life-Balance" zu leben: "Es gibt eine neue Art von Feminismus, der Leute zu besseren neoliberalen Subjekten machen und sie glauben machen will, Gleichberechtigung hieße, eine Karriere machen zu können, die Freiraum für Kinder lässt. Das mag wichtig sein. Aber dieser Feminismus geht nicht an die Wurzel der Diskriminierung. Er redet nicht über Verhütung, Abtreibungsrechte oder darüber, wie Arbeit verteilt ist. Er redet nicht über sexuellen Missbrauch, Rassen- und Klassenzugehörigkeit. Wenn wir alle wohlhabende weiße Frauen in Weltstädten sein könnten, wäre das okay. Aber so funktioniert keine echte Befreiung."
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