9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Konstrukt mit sehr realen Konsequenzen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2015. Man muss den tunesischen Jugendlichen Hoffnung machen, ruft der Menschenrechtler Abderrahmane Hedhili nach dem neuen Massaker im Land in Libération. Amerika feiert die Entscheidung des Supreme Court zur Lesbenehe. Huffpo.fr analysiert, wie sich der Islamische Staat in die westliche Popkultur einbrannte. Der Standard bringt einen Schwerpunkt über  "Die überwachten Bürger". Vice fragt: Hat der Papst recht, wenn er die Rolle der katholischen Kirche im Holocaust mit Verweis auf die Untätigkeit der Alliierten relativiert?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.06.2015 finden Sie hier

Politik

Das neueste tunesische Massaker hat eine besonders symbolische Dimension, weil es das einzige Land trifft, in dem der arabische Frühling zu einer Demokratisierung geführt hat. Der Menschenrechtler Abderrahmane Hedhili betont im Interview mit Christian Losson von Libération, dass den Jugendlichen in Tunesien eine Hoffnung auf Aufstieg gemacht werden muss: "Natürlich erklärt die soaziale Frage nicht alles, und sie entschuldigt kein Verbrechen. Aber in einem Land in diesem Kontext, inklusive der aktuellen Lage in Libyen, muss man einfach eine Hoffnung finden, angesichts von Attentaten, die Verzweiflung auslösen."

Mathieu Slama denkt in der huffpo.fr über die Snuff-Videos nach, mit denen sich der "Islamische Staat" in die kollektive Einbildungskraft des Westens eingebrannt hat. "Ob man es will oder nicht, der Islamische Staat ist zum Teil der westlichen Populärkultur geworden. Interessant, ist, dass der Islamische Staat aus List, alle Codes des Westens benutzt, um sich in seine Imagination zu schleichen, während er sich selbst als totale, eschatologische Opposition zu ihm positioniert."

Weiteres: Die SZ bringt in ihrem "Buch zwei" ein großes Dossier darüber, die der Islamische Staat auch in Deutschland Mädchen rekrutiert.
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Überwachung

Der Standard bringt einen Schwerpunkt über "Die überwachten Bürger". Ronald Pohl versucht das Thema essayistisch in den Griff zu bekommen: "Der Begriff der Macht meint eine Vielzahl von Effekten. Deren ganzer Zauber besteht aus Wirken und Bewirken, aus Ein- und Zugriffen, die sich umso besser bewähren, je nachhaltiger der Mensch dazu gebracht wird, zu tun, was von ihm verlangt wird." Unter anderem bringt das Dossier ein Pro und Kontra zur Frage: "Warum wir Geheimdienste brauchen - oder auch nicht".
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Stichwörter: Geheimdienste, Überwachung

Gesellschaft

Ganz Amerika, oder naja, vielleicht mit Ausnahme des Bible Belts, feiert die Entscheidung des Supreme Court zur Homoehe. Das Weiße Haus ließ sich nicht nur in den Regenbogen anstrahlen, sondern änderte auch sein Logo in den sozialen Netzen.

Auch der Aktivist Evan Wolfson feiert den Sieg in der New York Times und mahnt zugleich: "Das klassische Muster in unserer Geschichte ist, dass Opponenten eines Fortschritts in den Bürgerrechten versuchen, diesen Fortschritt unter dem Banner der Religion zu untergraben." Wie es ihnen beim Recht auf Abtreibung auch dank einer indifferenten Öffentlichkeit längst gelungen ist.

In Europa geht es immer noch um Rasse, auch wenn das niemand mehr hören will, erklärt der amerikanisch-nigerianische Schrifsteller Teju Cole im Interview mit der Literarischen Welt. Beispiel ist die Flüchtlingspolitik in Europa: "In Europa werden die jungen Arbeitskräfte knapp. In der New York Times lese ich mit schöner Regelmäßigkeit zwei Sorten Geschichten. Die einen berichten davon, dass in Europa nicht genug Kinder geboren werden. Die andere dreht sich um die Frage, wie Europa die Flüchtlinge fernhalten kann. Aber niemand scheint diese beiden Geschichten verknüpfen zu wollen, denn die Idee ethnischer Homogenität ist immer noch virulent. Auch wenn es niemand mehr laut sagt."

In der NZZ resümiert Andrea Köhler die Debatte über die Amerikanerin Rachel Dolezal, eine Weiße, die sich als Schwarze ausgab und jahrelang von ihrer Umgebung als solche akzeptiert wurde, bis ihre Eltern sie auffliegen ließen. Am Ende meint Köhler: "Wir alle sind in dem Spagat befangen, artifizielle Rollen spielen zu müssen und zugleich halbwegs authentisch zu sein. Doch während die Definition von sexueller Identität merklich flexibler geworden ist, sind die Prägungen (und Vorurteile gegenüber) der Herkunft noch immer erstaunlich stabil. Mag Dolezal, wie übrigens viele amerikanische Kommentatoren, auch argumentieren, dass Rasse ein soziales Konstrukt, ja, wie Steven W. Trasher im Guardian schreibt, ein pures Phantasma sei, es ist ein Konstrukt mit sehr realen Konsequenzen." Das stimmt, aber gilt das nicht auch für den weiblichen Körper?

Man muss nur den Artikel des algerischen Autors Kamel Daoud über den Frauenhass der Islamisten lesen (die NZZ hat ihn aus der huffpo.fr ins Deutsche übersetzt), um die These, Weiblichkeit sei ein soziales Konstrukt, Rasse dagegen nicht, höchst fragwürdig zu finden.

Außerdem: Im Aufmacher des Welt-Feuilletons diagnostiziert Ulf Poschardt eine Infantilisierung der linken Protestkultur.
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Medien

(Via Altpapier) Die AG Dok bleibt dabei, trotz einer Presseerklärung der ARD: Der Anteil der Dokumentationen in der ARD, der wegen eines freiwerdenden, aber nicht mit Diokumentationen belegten Talkshowplatzes in dies diskussion kam, ist zurückgegangen, und finanziell fällt der kaum ins Gewicht: "Ein Genre, das im Kernbereich des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags steht, wird in der ARD mit 8,5 Prozent der Sendezeit und mit 0,2 Prozent des Gesamthaushalts abgespeist. Das ist nicht genug. Das ist armselig. Der Anteil fiktionaler Angebote im Hauptprogramm liegt hingegen schon jetzt bei 43 Prozent. Da muss doch die Frage erlaubt sein, ob ein frei werdender 90-minütiger Sendeplatz unbedingt für weitere fiktionale Angebote reserviert werden muss."

Weiteres: Die SZ bringt auf der Medienseite einen Essay Sibylle Lewitscharoffs zu sechzig Jahre SWR-Radioessay, in dem sie besonders an Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt erinnert.
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Geschichte

Theresa Locker verweist in Vice auf eine Äußerung des Papstes Franziskus in der der spanischen Zeitung La Vanguardia über die Rolle der Kirche im Holocaust - in dem er die Verantwortung der Kirche relativiert und auf eine angebliche Untätigkeit der Alliierten in bezug auf Auschwitz hinweist: "Ich will nicht behaupten, dass Pius keine Fehler gemacht hat-ich selbst mache auch viele- aber man muss seine Rolle im historischen Kontext sehen. (…) Manchmal bekomme ich eine Krise, wenn ich sehe, wie jeder immer gegen die Kirche angeht und die [Rolle anderer] Großmächte vergisst. Wussten Sie, dass sie [die Alliierten] das Eisenbahnschienennetz der Nazis kannten, das die Juden in die Konzentrationslager transportierte? Sie hatten die Bilder. Aber sie haben diese Schienen nicht bombardiert. Warum? Es wäre am besten, wenn wir ein bisschen mehr über das Gesamtbild reden könnten." Hier der Text des Interviews auf englisch.

Locker verlinkt auch auf eine Diskussion von Historikern bei Reddit der mehr oder weniger zu dem Ergebnis kommen, dass die Alliierten gar nichts hätten machen können.

Heute wird ja im allgemeinen eher wieder die "Klugheit der Friedensordnung von 1815" gepriesen. Die FAZ druckt heute eine Rede des Historikers Fritz Stern, der daran erinnert, dass Heinrich Heine das noch anders sah: "Heinrich Heine, 1797 geboren im französisch besetzten Düsseldorf, inmitten der Französischen Revolution, in der Freiheit (liberté) die große Hoffnung war, wo der code civil die moderne Welt regeln sollte und wo der Untertan zum citoyen avancierte. Als Kind erlebte er die große Revolution. Das Rheinland war unter französischer Besatzung, später wurde sie von ihm als Befreiung empfunden. Ein französischer Tambour war einquartiert bei seiner Familie. Mit eigenen Augen sah er 1811 Napoleons feierlichen Einmarsch in Düsseldorf. Er sah in ihm den Künder der Freiheit, dessen Tyrannei er allerdings verabscheute."

In der Welt freut sich Tilman Krause über eine gelungene Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zu "Homosexualitäten": ""Homosexualitäten" (auf den Plural wird in der neuen Berliner Ausstellung großer Wert gelegt!) im ganzen queeren Sinne dieses Wortes als fröhliche Erfolgsgeschichte, als Feier der Vielfalt, als Triumph der diversity zu zeigen, das kann wahrscheinlich erst unsere Zeit."
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