9punkt - Die Debattenrundschau

Hier wird die Verfassung geschützt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2015. Nach dem Grimme Online Award und "Journalist des Jahres 2014" ist der Vorwurf des Landesverrats bereits die dritte hohe Auszeichnung, freut sich Netzpolitik.org. In der taz erklärt Serhij Zhadan, warum er sich nicht mehr zur Unterhaltung westlicher Intellektueller mit russischen Okkupanten auf ein Podium setzen will. Ebenfalls in der taz ruft der Kulturwissenschaftler Anselm Lenz die seriös formulierte Revolution aus. Der Philosoph Markus Gabriel ist mit dem Fortschritt der Menschheit hingegen ganz zufrieden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2015 finden Sie hier

Überwachung

Der Vorwurf des Landesverrats gegen Netzpolitik.org hat eine Welle der Empörung und Solidarität ausgelöst. "Wir alle sind netzpolitik.org!", schreibt Markus Grill auf correktiv.org, wo nicht nur die betreffenden Dokumente hochgeladen und Selbstanzeige wegen Landesverrats gestellt wurde, sondern auch gleich noch eine Vorlage zur Selbstanzeige zum Download angeboten wird für alle, die es ihnen gleichtun wollen. Die Netzpolitik-Redaktion begreift die Ermittlungen erst einmal als das, was es auch ist: eine hohe Auszeichnung und großartige Reklame.

Gegenüber der FAZ teilt Generalbundesanwalt Harald Range mit, dass er die Ermittlungen ruhen lässt, um ein Gutachten darüber erstellen zu lassen, ob tatsächlich der Tatbestand des Landesverrats vorliegt: "Bis zum Eingang des Gutachtens wird mit den Ermittlungen innegehalten."

"Das ist leider gar kein Grund zur Entwarnung", sagt dazu Netzpolitik-Gründer Markus Beckedahl im Tagesspiegel-Interview mit Sonja Álvarez: "Es irritiert eher, dass erst die Ermittlung gestartet und die Öffentlichkeit informiert wird, um dann ein Gutachten einzuholen. Das bestätigt eher unsere These, dass es sich bei den Ermittlungen um einen Einschüchterungsversuch handelt."

Diese Einschätzung teilt Patrick Beuth auf Zeit digital: Die Anzeige von Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen richte sich nicht eigentlich gegen die konkret belasteten Journalisten Beckedahl und André Meister, sondern sei als Abschreckung für potenzielle Whistleblower zu verstehen: "Der oberste Verfassungsschützer will verhindern, dass es demnächst einen deutschen Edward Snowden, eine deutsche Chelsea Manning gibt, die noch viel mehr geheime Unterlagen an die Öffentlichkeit tragen. Denn das könnte nicht nur Methoden zutage fördern, über die kein Geheimdienstler gerne öffentlich debattieren möchte. Es könnte auch die Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern - allen voran den USA - gefährden, von deren Wissen und deren Technik der Verfassungsschutz in großem Umfang profitiert."

Im Gespräch mit Detlef David Kauschke von der Jüdischen Allgemeinen hatte Maaßen noch am Donnerstag einen anderen Eindruck erweckt: "Wir sind bemüht, so transparent wie möglich zu agieren, weil ich der festen Überzeugung bin, dass ein Nachrichtendienst die Unterstützung nicht nur der Politik, sondern der gesamten Gesellschaft braucht, um seine Arbeit machen zu können."

Zeit digital meldet unterdessen, dass Bundesjustizminister Heiko Maas eine Überprüfung des Landesverratsparagrafen ankündigte: "Es werde "zu klären sein, ob die strafrechtlichen Vorschriften über Landesverrat und über den Schutz von Staatsgeheimnissen im Verhältnis zur Pressefreiheit insgesamt reformbedürftig sind."" Für Arno Widmann (FR) steht allerdings fest: Weil die fraglichen Dokumente nicht geheim, sondern lediglich vertraulich waren, fallen sie hierzulande gar nicht unter den Landesverratsparagrafen. Das war in der DDR noch anders: "Die Genossen wussten einfach besser, wie ein Staat zu schützen ist. In der Bundesrepublik aber gibt es in Wahrheit keinen Staatsschutz. Hier wird die Verfassung geschützt. Allerdings scheinen selbst Verfassungsschützer das immer wieder zu vergessen."
Archiv: Überwachung

Gesellschaft

In der Welt fordert Thomas Schmid von den Osteuropäern, ihre unzeitgemäßen Vorstellungen von ethnischer Homogenität aufzugeben, die jedem euorpäischen Gemeinsinn widersprächen: "Auf unmissverständliche Weise hat das Pawel Kukiz ausgedrückt, der polnische Rockmusiker, der mit einer populistischen und antipolitischen Kampagne bei der Präsidentenwahl im Mai mit 20,8 Prozent auf dem dritten Platz landete. Er brachte das Problem auf eine einfache Formel: Es gehe einfach nicht an, dass Westeuropa von der Arbeits- und Geisteskraft von zwei Millionen gut ausgebildeter Polen profitiere - während die EU versuche, irgendwelche Habenichtse von irgendwoher Polen zuzuschieben."

Im Welt-Gespräch mit Dagmar von Taube darf Bildschreiber Franz Josef Wagner seine Abneigung gegen Frauen ausbreiten: "Es geht mir halt um die Babys!".
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Rockmusik, Rockmusiker

Geschichte

Die Krise in Griechenland erinnert den amerikanischen Ökonom Jeffrey Sachs in der SZ an die Endphase der Weimarer Republik unter Reichskanzler Heinrich Brüning, weshalb er dringend zu einem Schuldenschnitt rät: "Deutschland bat die USA um langfristige Entlastung bei den Reparationen und beim Schuldendienst, allerdings vergeblich. Erst kam die Hyperinflation, dann die Massenarbeitslosigkeit, dann der Zusammenbruch von Banken und ein großer Run auf das Banksystem 1931, was zur Schließung der Banken führte (wie heute in Griechenland). US-Präsident Herbert Hoover gewährte schließlich ein Schulden-Moratorium, aber es war zu spät. Hitler kam 1933 an die Macht."

Zum Jahrestag der Atomschläge gegen Hiroshima und Nagasaki, der sich nächste Woche zum siebzigsten Mal jährt, bringt die Literarische Welt außerdem einen Auszug aus Patrick Marnhams Buch "Schlangentanz. Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters". Und die FAZ bespricht die Dokumentation "Nagasaki. Warum fiel die zweite Bombe?" von Klaus Scherer, dessen Buch "Nagasaki. Der Mythos der entscheidenden Bombe" wiederum in der Welt rezensiert wird.
Archiv: Geschichte

Europa

Ausgewogene Debatten mit prorussischen Autoren, in denen jeder seine eigene Wahrheit vortragen darf, auch wenn das Gegenüber das eigene Land annektieren will? Auf diese Befriedigung des Ausgewogenheitsbedürfnisses westlicher Intellektueller hat der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan keine Lust mehr, erklärt er in der taz: "Dass dabei ein Okkupant einem Okkupierten gegenübersteht, interessiert kaum jemand. Das sind lästige Details, Nuancen... Was bleibt, ist, sich während eines konstruktiven Gesprächs die Argumente der "anderen Seite" anzuhören, die auf historischer Bedingtheit und geopolitischer Logik, auf Konzeptionen und Strategien, auf einem Gefühl der Revanche und der Nachsichtigkeit basieren. Und all deine Worte, die um deine Allernächsten kreisen, um die Räume, wo du groß geworden bist, um die Luft, die du dein ganzes Leben einatmest - all das wird zerschmettert an der eiskalten eisernen Mauer der Geopolitik, an dieser "Wahrheit der anderen Seite"."

Angesichts des offenkundigen Scheiterns der neoliberalen Verheißungen rät der Kulturwissenschaftler Anselm Lenz in der taz, sich "mit dem Gedanken an eine seriös formulierte Revolution" anzufreunden: "Wenn der postmoderne Nebel sich verzieht, werden die Dinge wieder sichtbar. Eine abrupte und tiefgreifende Umstellung der Eigentums-, Produktions- und Investitionsordnung durch unmittelbar demokratische Maßnahmen hat nicht nur in Griechenland völlig zu Recht Konjunktur. Wischen Sie sich die Tränen von der Wange und gewöhnen Sie sich an den Gedanken, eine neue, geschmackvollere, gerechtere Grundlagensystematik bottom-up und so friedlich wie möglich durchzusetzen."

Blättert man in der taz eine Seite weiter, stellt sich die Lage schon wieder ganz anders dar. Die Welt von Krisen zerrüttet, Europa am Ende? Mitnichten, meint der Philosoph Markus Gabriel im Gespräch mit Hannes Koch: "Wir leben in Europa in mehr oder weniger gewaltfreien Gesellschaften - in dem Sinne, dass es kaum noch zu körperlicher Gewalt kommt. In unseren Großstädten lebt man viel sicherer als etwa in den USA oder in Brasilien. Deshalb beginnen wir uns zu fragen: Was ist mit psychischer Gewalt - Diskriminierung, Burn-out, Mobbing? Wir haben jetzt Phänomene im Blick, die uns vorher nicht aufgefallen sind, weil wir erst mal die harten Probleme zu klären hatten."

Seinem im Ausland vielbeachteten Guardian-Interview (unser Resümee) lässt Jürgen Habermas nun ein Gespräch mit Odile Benyahia-Kouider im Nouvel Observateur folgen, in dem er mehr Zurückhaltung Deutschlands in Europa fordert: "Das neue Deutschland, das ich mit Argwohn betrachte, steckt sich das ritualisierte Bekenntnis zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wie einen Orden ans Revers und vergisst, was die Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ihren Nachbarn zu verdanken hatte. Die Erinnerung der griechischen Regierung an ihre alten, zum Teil wohl begründeten Reparationsforderungen mag unter den gegebenen Umständen ungeschickt gewesen sein - die aus der Pistole geschossene kaltschnäuzige Reaktion der deutschen Regierung war schändlich."

Vergesst den Hype um Bewegungen wie Pegida oder um ein paar Neonazis hier oder dort: Viel schlimmer ist ein Regime wie das Viktor Orbáns mit seinem ungarischen Nationalismus und seiner Fremdenfeindlichkeit, meint Cas Mudde in der Commentisfree-Sektion des Guardian: "Noch empörender als Orbáns wachsender Radikalismus ist das ohrenbetäubende Schweigen im Rest Europas. Die EU hat nur bestimmte Aspekte von Orbáns illeberalem Regime kritisiert, etwa die nationale Kontrolle von Banken und Medien, aber die mächtige Europäische Volkspartei steht fest zu Orbán, ihrem ehemaligen Vizepräsidenten."
Archiv: Europa