9punkt - Die Debattenrundschau

Die kleinen Verschiebungen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2015. Politico.eu staunt: Morgen wird ein Verehrer Hugo Chavez' zum Chef der Labour-Partei gewählt. Und huffpo.fr staunt auch: über Pep Guardiola, der für die Unabhängigkeit Kataloniens wirbt. In der FR hat Frans de Waal schlechte Nachrichten für Kirchen und andere Religionen: Sie haben die Moral gar nicht erfunden. In der Jüdischen Allgemeinen reibt sich Henryk Broder den Kopf: Warum will Claudia Roth, dass die Iraner Atomkraft nutzen dürfen, die Deutschen aber nicht?  Und In Australien sind laut Mashable jetzt sämtliche Australier wiedererkennbar.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.09.2015 finden Sie hier

Europa

Morgen wird wohl Jeremy Corbyn zum Chef der Labour-Party gewählt. Robert Colville findet bei politco.eu, dass "es sich immer noch seltsam anfühlt, diesen Satz niederzuschreiben. Nicht nur weil Corbyns wahrscheinlicher Sieg total unerwartet kommt, sondern weil er die größte Oppositionspartei in Britannien weiter nach links rückt als je in den letzten dreißig Jahren. Eine Partei, die einst Bill Clinton vergötterte, ist dabei einen Mann zu küren, der Hugo Chavez verehrt."

Scharfe Polemiken gibt es in Spanien um den Bayern-Trainer Pep Guardiola, der im jüngsten katalonischen Wahlkampf wieder massiv für die Sezessionisten wirbt (die eine absolute Mehrheit in der Region erwarten). "Wenn das jemanden stört, ist das sein Problem", hat Guardiola dazu laut Romain Herreros in der Huffpo.fr gesagt, "eine polemische Bemerkung, die ihm den Zorn von Madrid eingetragen hat - zum Beispiel den des Innenministers Jorge Fernandez Diaz, der ebenfalls Katalane ist und Guardiola öffentlich angegriffen hat. "Manche haben mit der Nationalmannschaft gespielt und triumphiert, und nun zeigt sich, dass sie es nicht aus Patriotismus, sondern nur aus finanziellen Interessen getan haben."" Worauf Guardiola antwortet, dass er für Katalonien gespielt hätte - wenn es möglich gewesen wäre."

Weiteres: Die ungarischen Intellektuellen mucken gegen den Kurs ihres Ministerpräsidenten nicht mehr auf, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ.
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Kulturpolitik

Wo sollen die vielen Flüchtlinge untergebracht werden, überlegt Dankwart Guratzsch in der Welt. Die Innenstädte leiden jetzt schon unter einem Mangel an günstigen Wohnungen, mit Wohnsilos am Stadtrand drohen Verhältnisse wie in den Pariser Banlieues. Die Flüchtlinge können auch nicht aufs Land, weil sie Arbeit brauchen. Zeit für Architekten und Stadtplaner, ein paar Ideen zu entwickeln, meint Guratzsch: "Von den Landesregierungen und vom Städtetag hat man bisher nur gehört, dass sie Geld vom Bund haben wollen, um die Probleme zu lösen. Doch Gestaltung ist keine Frage der Finanzierung, sondern des Menschenbildes und der Phantasie. Im Städtebau müssen sie jetzt beweisen, was sie hierzu seit den 1960er Jahren dazugelernt haben oder ob für sie Bauen noch immer nichts anderes ist als Erich Honeckers "Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem" - also das Arbeiterschließfach und das Wohngetto auf der Grünen Wiese." Eins ist laut FAZ allerdings sicher: die Golfstaaten nehmen keine Flüchtlinge auf, bieten aber an, Moscheen zu bauen.

In der NZZ zeichnet Wei Zhang Stärken und Schwächen des chinesischen Schulsystems auf.
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Gesellschaft

Auch wenn der Sänger Xavier Naidoo über die Untaten eines "Baron Totschild" rappt, darf er noch lange nicht als Antisemit bezeichnet werden. Alexander Nabert berichtet in der Jungle World über Prozesse, in denen sich Leute wie Naidoo - meist erfolgreich - gegen derartige Charakterisierungen wehren.
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Ideen

Schlechte Nachrichten für die Kirchen und Imame hat Primatenforscher Frans de Waal im Gespräch mit Arno Widmann in der FR: "Die Religionen, die uns erzählen, sie hätten der Menschheit die Moral gebracht, sind zwei-, dreitausend Jahre alt. Die Menschheit ist Jahrhunderttausende alt. Wir werden aus den materiellen Relikten, die wir aus jener Zeit haben - Knochen und Faustkeile zum Beispiel - wahrscheinlich niemals Rückschlüsse ziehen können auf die moralischen Erwägungen unserer Vorfahren. Wenn wir aber bei anderen Spezies auf moralisches Verhalten oder doch Ansätze dazu stoßen, dann ist sehr wahrscheinlich, dass unsere Vorfahren vor einer Million Jahren, als es noch keine Religion gab, doch bereits moralische Wesen waren."

Weiteres: Cord Riechelmann berichtet für die taz von einem Vortrag des Psychoanalytikers und Neurowissenschaftlers Eric Kandel in Berlin. Dirk Pilz würdigt in der FR den französischen Philosoph Georges Didi-Huberman, der den Adorno-Preis bekommt.
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Politik

Henryk Broder fürchtet im Gespräch mit Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen, dass die Welt nun endgültig gaga geworden ist. Beispiel Claudia Roth: "Daheim kämpft sie für die Grünen seit Jahrzehnten für den kompletten Ausstieg aus der Atomkraft. Dem Iran aber möchte sie "eine zivile Nutzung der Atomkraft ermöglichen", wie sie der Tagesschau mitteilt. Weil das die Lage in Syrien und Iran verbessern und für Israel mehr Sicherheit bedeuten würde."
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Überwachung

Australien wird sämtliche Pass- und Führerscheinfotos des Landes in eine Datenbank einspeisen, die eine digitale Gesichtserkennung möglich machen und die Ermittlung von Terroristen und Verbrechern erleichtern soll, berichtet Ariel Bogle bei Mashable. Wahrend Regierungsstellen beteuern, dass es "sich nicht um eine zentralisierte biometrische Datenbank handelt, weil hier nur Information besser geteilt wird, die vorher schon von verschiedenen Stellen des Justizsystems gesammelt worden war, stellt der Datenschütze Mark Gregory die Verwendung der Bilder zur Durchsetzung von Gesetzen in Frage. "Es sind die kleinen Verschiebungen in der Art, wie die Dinge benutzt werden, die am meisten diskutiert werden müssen", sagt er. "In diesem Fall werden unsere Passfotos für Zwecke benutzt, denen wir nie unsere Zustimmung gegeben haben.""
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