9punkt - Die Debattenrundschau

Die Angstgruppe und die Ressentimentgruppe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2015. Aktualisiert: Wie die Media-Agentur von Volkswagen französische Zeitungen unter Druck setzte. Laut Recode greift nun Google in die Debatte um Internetwerbung ein und verlangt "akzeptable Werbeformate". In der SZ versucht der ukrainische Autor Jurko Prochasko die "unheimliche Anziehungskraft der Kreml-Propaganda" zu ergründen. In der Zeit kritisiert Martin Roth vom Victoria & Albert-Museum die Staatsnähe deutscher Museen. In der Welt beschreibt Flemming Rose von Jyllands-Posten die Selbstzensur westlicher Medien zehn Jahre nach den Mohammed-Karikaturen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.10.2015 finden Sie hier

Europa

Der ukrainische Autor Jurko Prochasko will sich in der SZ einen Reim auf die "unheimliche Anziehungskraft der Kreml-Propaganda" in Westeuropa machen: "Die Melodie der Putinschen Sirenen ist kontrapunktisch komponiert. Sie erreicht zwei sonst kaum kompatible Gruppen von Rezipienten. Ich nenne sie die "Angstgruppe" und die "Ressentimentgruppe". Die erste leidet am Stockholm-Syndrom, identifiziert sich mit dem Aggressor. Hauptsache, es gibt keinen neuen, noch größeren Krieg... Die zweite, die "Ressentiment-Gruppe" wiederum lauscht Putin vor lauter gekränkter Wut auf eigene Regierungen oder weil man sich im eigenen Extremismus und Populismus bestätigt fühlt."

Reiner Burgers Leitartikel in der FAZ liest sich ein bisschen so, als hätte er im Perlentaucher Eva Quistorps "Gedanken einer Deutschlehrerin im Flüchtlingshaus" gelesen - aber wo Quistorp fordert, dass den Flüchtlingen die Idee der Pluralität und universelle Werte nahegebracht werden, landet Burger mit hämischem Triumph über die Grünen beim Begriff "Leitkultur", der nun auch von Linken reklamiert werde: "Zum Beispiel: Männer und Frauen sind gleichberechtigt, weshalb Mädchen selbstverständlich am Schwimmunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen. "Ehrenmorde" an Töchtern und Schwestern, die ihre Partner gerne allein wählen und ihr eigenes Leben leben wollen, sind ein übles Verbrechen. Ja, Leitkultur hat auch viel mit Frauenrechten zu tun." Nein, im Namen der "Leitkultur", die eine religiöse war, wurden auch in Europa die Frauen unterdrückt!
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Internet

Sridhar Ramaswamy, der Werbeverantwortliche bei Google, hat sich zum ersten Mal nach Einbau eines Adblockers in die Apple-Browser zur großen amerikanischen Debatte über Internetwerbung geäußert, berichtet Mark Bergen bei recode.net und zitiert: ""Das Problem ist wirklich, dass Adblocker das Kind mit dem Bade ausschütten. Sie machen es einer Menge Leute unmöglich, sich zu refinanzieren", sagte er in einem Gespräch mit Bob Safian, einem Redakteur bei der Zeitschrift Fast Company. "Wir müssen als Industrie anerkennen, dass wir eine Antwort darauf finden müssen. Wir müssen zusammenarbeiten und definieren, was eine akzeptable Anzeige ist und wie akzeptable Anzeigenprogramme aussehen können."
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Religion

Matthias Kamann beschreibt in der Welt die Politik des Papstes in Fragen der Sexualität und Ehe als eine Art milde Heuchelei in der Praxis: "Man hält fest an den alten Vorschriften, ist aber barmherzig, wenn sich die Leute nicht daran halten. Damit freilich gibt die katholische Sexualethik ihren Geltungsanspruch auf. Zudem bedeutet es Klerikalisierung: Ob etwas Sünde ist, entscheidet sich weniger anhand von Regeln als vielmehr anhand päpstlicher Barmherzigkeitsbereitschaft."
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Kulturpolitik

Im Interview mit der Zeit kritisiert der Direktor des Victoria and Albert Museums Martin Roth die Staatsnähe deutscher Museen und den staatlichen Kontrollfetischismus ("besonders" von Monika Grütters), der auch das Humboldt-Forum gefährde. Roth vermisst ein inhaltliches Konzept für das Forum, das anderen Kulturen auf Augenhöhe begegnet: "Wir sollten von vornherein in gemeinsamen Kategorien denken. Die Zusammenarbeit kann auch nur in gemeinsam besetzten Teams erfolgen. Es geht dann nicht um Projekte, die hier erfunden und dort "unten" und "da drüben" akzeptiert werden, sondern um wirkliche Co-Entwicklungen. Auch die Verantwortlichkeiten würden also wirklich geteilt. Aber diesen Mut muss man haben. Man muss dann auch mit Denkweisen zurechtkommen, mit denen man Schwierigkeiten hat." (Martin Roth gehörte zu den Organisatoren der "Aufklärungs"-Ausstellung in Peking im Jahr 2011 und kam bei der Verhaftung Ai Weiweis mit der Denkweise der chinesischen Regierung zurecht. Mehr hier.)
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Medien

(Via Politico.eu) Die Werbeagenturen von VW setzten französische Zeitungen unter Druck, nicht über die VW-Krise zu berichten, meldet der Nouvel Obs: "Der Canard enchaîné veröffentlicht eine E-Mail vom 22. September von einer Werbeagentur an die Leiter französischer Regionalzeitungen. Was dort steht? Dass MediaCom, die Media-Agentur von Volkswagen, die Zeitungen auffordert, "keinen Artikel zur VW-Krise an den Erscheinungstagen 6., 8., und 10. Oktober zu bringen"... Sonst "sähen wir uns gezwungen, den Plan zu annullieren", so die Agentur, und das heißt, dass die vorgesehenen Investitionen in Hohe von 315.000 Euro nicht fließen." Bei Wohlverhalten wird laut NouvelObs außerdem in Aussicht gestellt, dass ein Audi-Auftrag in Höhe von mehr als einer Million Euro aufrechterhalten wird.

Flemming Rose, seinerzeit Kulturredakteur bei Jyllands-Posten, erzählt im Interview mit Henryk Broder in der Welt noch einmal, wie es zu den Mohammed-Karikaturen kam. Ein Kinderbuch über Mohammed war nicht zustande gekommen, weil die Verlage Angst hatten: "Daraufhin haben wir alle Mitglieder der Vereinigung der dänischen Karikaturisten angeschrieben; zwölf haben positiv geantwortet, unter ihnen auch Kurt Westergaard. Wir wollten damals wissen: Gibt es so etwas wie Selbstzensur gegenüber dem Islam? Und wenn es eine Selbstzensur gibt, handelt es sich um Einbildung oder hat sie etwas mit der Wirklichkeit zu tun? Das war alles. Heute wissen wir es. Es gibt eine Selbstzensur und sie entspringt nicht einer eingebildeten Gefahr."

Die Süddeutsche Zeitung war in der Nachkriegszeit von alten Nazis und Schlussstrichverteidigern dominiert, stellt Wilhelm von Sternburg, der große alte Mann der FR, in einer Rezension von Knud von Habous Geschichte der Zeitung fest. Und das gilt auch fürs Feuilleton: "Als Alfred Andersch 1952 über seine Desertion aus den Reihen der Wehrmacht berichtete ("Kirschen der Freiheit"), schäumte die Rechtspresse über "Gesindel, Denunzianten und Emigranten", die man "draußen lassen" müsse. Die Süddeutsche stempelte Andersch als "heimatlosen linken Intellektuellen" ab, der sich "gegen den deutschen Wehrbeitrag" wende."

Das Google News Lab, jene Initiative des Internetgiganten, die mit 150 Millionen Dollar die kritischen Zeitungen versöhnlich stimmt und ihnen Aussichten auf "Innovation" verspricht, hat jetzt ein Gesicht, berichtet Meedia. Die neue Leiterin der Initiative heißt Isabelle Sonnenfeld und kommt von Twitter. "Die Initiative will Innovationen im digitalen Nachrichtengeschäft suchen, finden und fördern. Vom Start weg mit dabei waren Verlage wie FAZ, die Zeit, Les Echos, Financial Times, Guardian, NRC Media, El País und La Stampa."
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Gesellschaft

Die Zeit hat ihre aktuelle Ausgabe zum großen Teil den Flüchtlingen gewidmet. Das Schöne daran: Viele kommen selbst zu Wort, statt dass über sie berichtet wird, und zwar in allen Rubriken.

Die FAZ widmet zum heutigen Tag der Ernährung das ganze Feuilleton dem Thema Ernährung (so dass der Nachruf auf Hellmuth Karasek auf die bunte Seite verbannt wird). Biobauern sprechen von ihrer Liebe zu Land und Tieren und über den Preis ethisch zu rechtfertigender Bioeier (50 Cent). Ein Interview mit dem populären Philosophen Richard David Precht handelt ebenfalls von Ernährungsthemen.

Weiteres: In der NZZ staunt Andrea Köhler, dass sie auf auf ihrer girechischen Urlaubsinsel nicht die geringste Spur von Krise fand.
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